Als die Junge Tat im Herbst 2022 eine Dragqueen-Lesung im Zürcher Tanzhaus stört, erfährt der 15-jährige Jonas* aus den Medien davon – googelt den Namen der Gruppe, schaut sich an, was sie tun – und fühlt sich verstanden.
«Männer, die sich als Frau verkleiden, finde ich unmenschlich», sagt Jonas. Wir seien als Mann und Frau geschaffen, dazwischen gebe es nichts. Gegen Schwule habe er nichts, aber ihn störe, wenn «diese» das zur Persönlichkeit machen. Er könne nicht nachvollziehen, warum man Kindern Dragqueens zeige. Ihn nerve der «linke Lifestyle».
Zudem hätten wir Probleme mit Überbevölkerung – nach der Lehre könne man sich keine Wohnung mehr leisten. Einzig die Rechten unternähmen etwas gegen Dragqueens und Migranten.
Judenhass und Rechtsextremismus vermehrt Thema in Jugendtreffs
Anfang März hat ein 15-Jähriger in Zürich einen Juden niedergestochen. Der Teenager hatte dem Islamischen Staat Treue geschworen und in einem Video angekündigt, «so viele Juden wie möglich» töten zu wollen.
Die Tat entfachte eine Diskussion über die Radikalisierung von Jugendlichen – und über wirksame Prävention. Der Täter hatte bereits mehrere Monate vor der Tat IS-Videos gepostet, sich zusehends isoliert.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die offene Jugendarbeit: Sie geht auf Jugendliche zu, baut eine Beziehung zu ihnen auf. Bei Befürwortern gilt sie als eine Art Frühwarnsystem bei Radikalisierungstendenzen. Ausgerechnet die Wohngemeinde des Messerstechers hatte bis vor wenigen Monaten trotz anhaltenden Problemen keine Jugendarbeit.
Nicht nur Judenhass ist vermehrt ein Thema im Jugendtreff, auch Faszinationen für Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien beschäftigen Jugendarbeiterinnen.
Einmarsch in die Ukraine hat «schon seine Gründe»
Jonas weiss zwar, dass die Junge Tat in der Kritik steht, aber dass Mitglieder wegen Rassendiskriminierung verurteilt und vom Nachrichtendienst beobachtet werden, erfährt er erst im Gespräch mit dem örtlichen Jugendarbeiter. Er und sein gleichaltriger Kollege Lewin* gehen regelmässig in den Jugendtreff einer ländlichen Zürcher Gemeinde. Ein Gespräch ist möglich, weil sie und ihr Wohnort im Bericht anonym bleiben.
Lewin bezeichnet sich als prorussisch. Im «Konflikt» in der Ukraine werde vieles verschleiert: «Man sagt immer, Russlands Einmarsch sei nicht legitimiert, aber es hat schon seine Gründe.» Die Nato-Osterweiterung zum Beispiel. «Die Ukraine wird als Opfer gesehen, aber was sie in Belgorod gemacht haben, darüber wird nicht berichtet.» In der russischen Grenzstadt kam es wiederholt zu militärischen Gefechten, wobei der Kreml die Ukrainer beschuldigte, Experten jedoch russische Partisanen dafür verantwortlich machten.
Beide informieren sich vorwiegend übers Internet: Lewin folgt SRF und Blick, auf Telegram dem russischen Staatssender Russia Today, auf Youtube lange dem bekannten russischen Militärblogger Alexander Sladkow. Dessen Kanal wurde entfernt, weil er gegen die Community-Richtlinien verstossen hat. Vielleicht, weil Sladkow als Mitglied des russischen Verteidigungsministeriums Propaganda betreibt.
Lewin sagt, man dürfe nicht alles glauben, was man im Internet lese, darum würde er jeweils mehrere Quellen aufsuchen. Etwas, was die beiden auch während des Gesprächs immer wieder tun: Begriffe oder Definitionen googeln.
Mit wenigen Klicks zu rechten Hetzern
Das Problem: Ihre Neugierde bringt sie schnell zu den Kanälen der Online-Hetzer. Jonas schwärmt im Gespräch vom Youtube-Kanal «Ketzer der Neuzeit», in dem der junge Deutsche Leonard Jäger gegen das Gendern, Abtreibung, die Corona-Impfung und den «LGBTQ-Wahnsinn» wettert.
Jonas sagt, er finde Jägers Argumente gut – er könne auf «lustige Art» die Probleme ansprechen. Die Videos sind professionell, witzig und vordergründig harmlos – eine Medienstrategie der Identitären Bewegung. Gewisse Dinge, die Jonas im Gespräch erwähnt, sind eine Art Blaupause des Kanals: Die Idee von deutschen Kitas, «Masturbationsräume» einzuführen, nennt er einen «Raum für Pädophile».
Jägers Kanal mit über 400’000 Followern spricht gezielt Jugendliche an. Auf diesem finden sich auch Verschwörungstheorien und Reichsbürger-Inhalte. Gegen Jäger wurde laut Eigenaussage Anzeige wegen Hass und Hetze erstattet.
Die Harmlos-Strategie von rechten Influencern zieht auch in der Schweiz: Die Junge Tat findet Jonas «voll okay», bezeichnet sie als «Jugendgruppe, die auf Sonntagswanderungen geht» und Veranstaltungen macht, «dass die Schweiz wieder Schweiz wird.» Mitmachen würde er jedoch nicht – dafür sind ihm die 16 Franken für den Zug nach Zürich zu teuer.
Gewaltvideos auf Reddit
Nebst Propaganda und Hetze sind auch Gewaltvideos online meist nur einen Klick weg. Beide haben Clips gesehen, wie IS-Terroristen Bomben basteln, Menschen andere mit Kettensägen verstümmeln. Auf Telegram, Instagram oder Reddit. Lewin: «Es ist ziemlich einfach. In den Einstellungen muss man 18+ zulassen, das kontrolliert niemand, in der Suchleiste «Gore» für Gewalt eingeben. Das machen alle so.»
Beide finden Gewalt nicht legitim. Lewin sagt, er war noch nie in einer Schlägerei und würde nie jemanden abstechen. Jonas: «Menschen, die gegenüber offen homosexuellen Personen gewalttätig werden, unterstütze ich nicht. Da muss ich nichts machen, es wird von anderen gezeigt, dass ihr Auftreten nervt.»
Schwulenhass verbreitet
Schwulenhass, sagt der Jugendarbeiter der beiden, nehme er in seiner Arbeit als verbreitete Haltung bei Jungen in diesem Alter wahr. Besonders junge Männer empfänden Homosexualität als «unbekannte Bedrohung», aus Unsicherheit werde Wut und Hass. Dass Landsgemeinden meist bürgerlich geprägt seien und viele Eltern ein konservatives Weltbild hätten, tue sein Übriges.
Neu sei, dass verschiedene Lebensstile in den sozialen Medien vereinfacht und zum Kampf hochstilisiert würden. Es fehle an differenzierten Meinungen: «Bei den Jugendlichen entsteht der Eindruck, sich für eine Seite entscheiden zu müssen.»
Sowohl bei Lewin als auch bei Jonas sei in letzter Zeit viel gegangen. Nach «vielen» Gesprächen und einer klaren Haltung gegenüber Gewalt und Rassismus seien ihre Ansichten heute deutlich differenzierter und abgeschwächter als noch vor einem halben Jahr. Jonas habe zu Beginn weg sehr für die Ideologien der Jungen Tat geschwärmt. Vor einiger Zeit sei ein «Z» – das Kampfzeichen des Kremls im Ukraine-Krieg – an die Wand des Jugendtreffs gesprayt worden. Heute unvorstellbar.
* Namen geändert