Passanten umzingeln den jungen Täter, Polizisten verhaften ihn kurz darauf: Blick-Leser haben die ersten Momente kurz nach einem brutalen Angriff mitten in Zürich auf Fotos festgehalten. Sie berichteten, dass am Samstagabend gegen 21.30 Uhr ein orthodoxer Jude auf offener Strasse von einem Jugendlichen angegriffen und schwer verletzt worden ist. Die Stadtpolizei Zürich bestätigt einen entsprechenden Einsatz im Kreis 2 an der Verzweigung Brandschenkestrasse/Selnaustrasse.
Beim Opfer handelt es sich laut der Polizei um einen 50-jährigen Mann. Mittlerweile hat sich sein Gesundheitszustand leicht verbessert. «Wir können mitteilten, dass das Opfer ausser Lebensgefahr ist», sagte Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), am Montagmorgen auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Der Mann müsse aber bis auf Weiteres intensiv betreut werden.
Viele Fragen zum Täter offen
Er wurde mit einer Stichwaffe schwer verletzt und musste am Samstag ins Spital gefahren werden. Der Täter: ein 15-jähriger Schweizer. Wie die «Weltwoche» berichtet, soll es sich bei dem Jugendlichen um einen eingebürgerten Schweizer mit tunesischen Wurzeln handeln, der sich hierzulande radikalisierte. Auf Anfrage von Blick bestätigt die Medienstelle der Jugendstaatsanwaltschaft diese Informationen nicht. Man erteile diesbezüglich keine weiteren Auskünfte.
Es bleibt vorerst auch unklar, ob der mutmassliche Täter bereits wieder auf freiem Fuss ist, oder sich noch in Haft befindet. Auch zur Frage, ob ein Antrag auf Untersuchungshaft gestellt werden könnte, äusserte sich die Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich mit Verweis auf das laufende Verfahren am Montagmorgen nicht.
Ersthelfer zu Blick: «Täter lachte lauthals»
Leserreporter-Bilder zeigen die Verhaftung des mutmasslichen Angreifers. Die Polizei sperrte das Gebiet rund um den Tatort grossflächig ab. Zudem seien die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen der Stadt «vorsorglich» erhöht worden, erklärt die Polizei.
Ein Ersthelfer berichtet Blick am Sonntag: «Ich bin kurz nach der Tat eingetroffen. Der Täter wurde in diesem Moment von der Polizei gegen die Wand gedrückt und arretiert. Dabei hat der Täter lauthals gelacht.» Zeugen vor Ort haben ihm berichtet, Rufe wie «Allahu Akbar» und «Islam, Islam» vom Täter gehört zu haben.
Juden beten für das Opfer
Noch am Samstag – rund 30 Minuten nach dem Angriff – traf sich die jüdische Gemeinde in Zürich in der Synagoge, um für das Opfer zu beten. Mehrere Hundert Menschen kamen innert kürzester Zeit zusammen.
Angehörige sagten zu Tachles, dass die Messerstiche die Hauptschlagader sowie Teile der Lunge getroffen hätten und seien nur knapp am Herzen vorbeigegangen. Laut Zeugen habe der Täter gegenüber ankommenden Passanten gerufen: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten», schreibt Tachles. Der junge Mann ist gemäss Auskunft der Behörden «nicht einschlägig bekannt.»
Am Sonntagabend wurde eine Mahnwache für das Opfer gehalten. Mehrere hundert Teilnehmer versammelten sich in der Nähe des Tatorts und liefen gemeinsam zum nahegelegenen Helvetiaplatz. Viele trugen gelbe Regenschirme. Sie gelten als Symbol gegen Antisemitismus.
Deutliche Zunahme seit Hamas-Angriff
Der SIG ist «zutiefst erschüttert», dass eines ihrer Gemeindemitglieder in Zürich angegriffen und lebensbedrohlich verletzt wurde, wie es in einer Mitteilung heisst. Physische Übergriffe in der Schweiz auf jüdische Menschen seien sehr selten. Jedoch musste seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober eine deutliche Zunahme solcher Übergriffe registriert werden. Kürzlich veröffentlichte die Westschweizer Fachstelle gegen Antisemitismus und Diffamierung (Cicad) Zahlen, wonach antisemitisch motivierte Vorfälle in der Westschweiz 2023 um 68 Prozent zunahmen. Fast die Hälfte davon ereignete sich nach dem 7. Oktober.
Jüdinnen und Juden in der Schweiz hätten sich seither an diese neue «traurige Normalität fast schon gewöhnt», sagt Kreutner zu Blick. Er fügt hinzu: «Aber ein solcher Fall in der Dramatik, in der Eskalationsstufe ist uns neu.» Weiter macht er klar: «Wir lassen uns das jüdische Leben in der Schweiz sicher nicht kaputt machen.» Man lasse sich nicht einschüchtern.
Der SIG sei in Gedanken beim Opfer und seinen Angehörigen. «Wir beten für eine vollständige und baldige Genesung», heisst es in der Mitteilung. Man geht davon aus, dass keine weitere Gefahr für jüdische Menschen und Einrichtungen besteht. «Trotzdem werden alle Mitglieder bis auf Weiteres zu einem vorsichtigen und besonnenen Verhalten aufgerufen».
«Es ist ein extremer Fall»
Ähnlich beschreibt es Jehuda Spielman, Gemeinderat der Stadt Zürich (FDP) und selbst Mitglied der orthodoxen jüdischen Gemeinde, gegenüber Blick. Er gibt an, dass in der Gemeinde Verunsicherung und Angst herrsche und dass diese geschockt sei. «Wir sind uns dieses Leid aber ein bisschen gewöhnt. Das ist aber ein extremer Fall – auch wenn er nicht ganz überraschend kam.» Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen – dies aufgrund der aktuell geladenen Atmosphäre.
Laut Spielman haben zufällig anwesende Passanten den Angreifer davon abgehalten, weiter auf das Opfer einzustechen. «Ohne diese Leute, die hier eingegriffen haben, hätten wir diesen Mann verloren.» Das Eingreifen zeige: «Die Gesellschaft ist noch gesund.»
«Der Schock sitzt tief»
Auch Mitglieder der Gemeinde sind über den Messerangriff entrüstet. «Der Schock sitzt tief», sagt etwa Sepp Grün (45). «Ich bin immer davon ausgegangen, dass derartige Angriffe in der Schweiz nicht passieren.» Dass jemand auf offener Strasse lebensbedrohlich verletzt wird, sei aber eine neue Situation, so Grün.
Ihn mache vor allem das junge Alter des Täters traurig. «Wenn bereits so junge Leute zu solchen Taten schreiten, haben wir ein übergreifendes Problem.» Die Angst in der Gemeinde sei nun spürbar. «Die Leute sind verängstigt.»
Die Synagoge in Wiedikon steht nach dem Angriff unter Polizeischutz. «Nach Rücksprache mit den jüdischen Organisationen der Stadt Zürich wurden die Sicherheitsvorkehrungen rund um spezifische Örtlichkeiten mit jüdischem Bezug vorsorglich erhöht», schreibt die Stadtpolizei Zürich in einer Mitteilung vom Sonntag. Dabei werde sie auch von der Kantonspolizei Zürich unterstützt. Auf Nachfrage von Blick äusserte sich die Stadtpolizei aus ermittlungstaktischen Gründen nicht näher zum Sicherheitskonzept.
Beat Jans: Keine gesichterten Informationen zum Hintergrund des Täters
Justizminister Beat Jans (59) verurteilte die Bluttat «in aller Form». In der Schweiz werde keine Form von Rassismus und keine Form von Antisemitismus akzeptiert, sagte der Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) am Montag am Rande eines Treffens in Brüssel.
«Ich möchte mein Mitgefühl gegenüber der verletzten Person und ihren Angehörigen zum Ausdruck bringen», sagte der Bundesrat weiter. Er hoffe sehr, dass die verletzte Person wieder gesund werde.
Er werde dafür achten, dass sich in der Schweiz eine solche Tat nicht mehr wiederholen müsse. Angesprochen auf zusätzliche Massnahmen zum Schutz der jüdischen Bevölkerung in der Schweiz, sagte Jans, dass zusätzliche Mitteln geplant seien, jedoch nicht aufgrund des Ereignisses.
Zum Hintergrund des Täters habe Jans noch keine gesicherte Informationen, antwortete er auf eine Frage eines Journalisten. Dies sei Teil der Ermittlungen, die der Kanton Zürich führe. Die Ermittlungen sollen auch klären, ob es sich um einen Einzeltäter handelte oder ob eine organisierte Gruppe mitwirkte.
Antisemitismus-Vorfälle häufen sich
Mehreren Aussagen zufolge soll es sich bei der Tat um ein Hassverbrechen gehandelt haben. Die Zürcher Stadtpolizei schreibt, dass in alle Richtungen ermittelt wird – man schliesse «explizit auch die Möglichkeit eines antisemitisch motivierten Verbrechens» mit ein.
Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) verurteilte die Tat in einer Mitteilung aufs Schärfste. Dies sei eine Zäsur und betreffe die ganze Zivilgesellschaft. Es sei kein Einzelfall, sondern eine Konsequenz der Eskalation rassistischer und antisemitischer Vorfälle.
Am Montag beschäftigte der Fall den Zürcher Kantonsrat. Regierungsrätin Jacqueline Fehr (60, SP) und Kantonsrätinnen und Kantonsräte verschiedener Parteien verurteilten den Angriff. Fehr kündigte am Montagmorgen im Zürcher Kantonsrat eine volle Aufklärung des Verbrechens an. Hass und Ausgrenzung würden nicht toleriert. Bis alle Fakten vorliegen, sei aber Vorsicht geboten bei Teilinformationen, warnte sie.
Muslimische Gemeinschaft erschüttert
Die muslimische Gemeinde «Ahmadiyya Muslim Jamaat Schweiz» (AMJS) zeigt sich bestürzt über den Vorfall. «Die Gemeindemitglieder beten für die vollständige Genesung des Opfers und für die Sicherheit der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger», heisst es in einer Medienmitteilung. Die AMJS setzt sich «entschieden gegen Antisemitismus, Islamophobie und jegliche Form von Hass» ein, so die Medienmitteilung weiter. «Es ist sehr beunruhigend zu sehen, dass der Konflikt im Nahen Osten den religiösen Frieden in der Schweiz bedroht.»
Die Vereinigung der islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) hat den Angriff vom Samstagabend verurteilt. «Nicht in unserem Namen!» hiess es in der Stellungnahme der VIOZ vom Sonntagabend. Der Verband reagierte damit auf verschiedene Medienberichte, laut denen der jugendliche Schweizer Täter ein antisemitisches Motiv sowie einen Migrationshintergrund aus einem islamischen Land haben soll.
«Wir erheben unsere Stimme und machen klar, dass dies nichts mit der muslimischen Gemeinschaft in Zürich zu tun hat», hiess es in der Stellungnahme weiter. Nichts rechtfertige einen Angriff auf Unschuldige. Man sei in Gedanken mit dem Betroffenen, seiner Familie und der ganzen jüdischen Gemeinschaft.