Ein Jugendlicher sticht im März 2024 in Zürich einen orthodoxen Juden nieder und verletzt ihn lebensbedrohlich. Später taucht ein Video des 15-jährigen Täters auf, in dem er dem Führer des Islamischen Staats (IS) die Treue schwört.
Es stellt sich die Frage: Wie schafft es die Terrororganisation IS, junge Menschen derart zu radikalisieren – selbst in der Schweiz?
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Die Tat kam für viele aus dem Nichts. Denn seit dem Zusammenbruch des Islamischen Staats in Syrien und im Irak Ende 2017 war es in der Schweiz merklich ruhiger geworden um IS-Sympathisantinnen und IS-Unterstützer. Medienberichte dazu waren seltener. Es schien, als habe die Terrororganisation an Attraktivität verloren.
Dschihadisten locken mit Propaganda
Doch der Eindruck täuschte. Noch im selben Monat März werden fünf Jugendliche und ein junger Erwachsener in den Kantonen Waadt, Genf, Schaffhausen und Thurgau festgenommen, weil sie verdächtigt werden, Verbindungen zu dschihadistischen Gruppierungen zu haben oder gar Vorbereitungen zu Anschlägen zu treffen. Die Strafverfahren laufen noch, es gilt für alle die Unschuldsvermutung.
Rückblende: Ab 2012 mehrten sich Berichte über junge Menschen, die von der Schweiz aus nach Syrien in den heiligen Krieg reisten, den Dschihad. Dabei fielen vor allem ein Netzwerk nahe Biel auf sowie als zentrale Treffpunkte die Winterthurer An’Nur-Moschee, eine Moschee in Embrach ZH und eine Bushaltestelle in Winterthur-Wülflingen.
Aufruf zum Heiligen Krieg und zum Töten
Überall dort sollen radikale Muslime hauptsächlich junge Männer mit Propagandamaterial angefüttert haben – so berichteten es Moscheebesucher und Busfahrer: Hassreden, Enthauptungsvideos und glorifizierende Aufnahmen von jungen Männern, die mit Panzerfäusten bewaffnet durch die Wüste brausen.
Die zentrale Botschaft: «Der strenge, rückwärtsgerichtete Islam ist der einzig richtige Weg; wenn du uns hilfst, einen islamischen Gottesstaat – ein Kalifat – im Nahen Osten zu errichten, dienst du Gott.» Zudem rief der frühere IS-Propagandaleiter und Mitgründer des IS, Abu Muhammad al-Adnani, in Videos dazu auf, möglichst viele Ungläubige zu töten. Dabei sei jedes Mittel recht.
92 Personen aus der Schweiz zogen in den Dschihad
Die Propaganda wurde damals über soziale Medien wie Facebook und Twitter und IS-eigene Websites geteilt. Aber auch offline: gepredigt von radikalen Imamen oder über die Koranverteilaktion «Lies!» in Städten verbreitet.
Das verfing vor allem bei jungen Menschen auf der Suche nach Orientierung. Von Ende 2011 bis Ende 2013 schlossen sich 1937 Europäer dem IS-Kampf an, zählte damals Aaron Y. Zelin, der heute am renommierten Washington Institute for Near East Policy zu arabischer und islamischer Politik und Terrorismus forscht. Die meisten dieser Dschihadkämpfer stammten aus Frankreich, Grossbritannien, Deutschland und Belgien. Doch auch aus der Schweiz reisten gemäss dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) 92 Personen in den heiligen Krieg.
Zahl der Strafverfahren nimmt zu
Mitte 2017 wurde die Winterthurer An’Nur-Moschee geschlossen, Ende des gleichen Jahres zerfiel in Syrien und im Irak das Kalifat. In der Schweiz ging die Zahl der Strafuntersuchungen und der Rechtshilfegesuche aus dem Ausland aber nicht zurück. Im Gegenteil, sagt Linda von Burg, Sprecherin der Bundesanwaltschaft, dem Beobachter: «Seit 2015 ist die Zahl der Verfahren permanent hoch. In den letzten zwei bis drei Jahren haben die Fallzahlen gar noch mal markant zugenommen.»
Zurzeit bearbeite die Bundesanwaltschaft rund 100 Verfahren und Rechtshilfegesuche aus anderen Ländern. Die überwiegende Mehrheit davon betreffe den dschihadistisch motivierten Terrorismus. Und beim NDB stieg im Rahmen der Abwehr des dschihadistischen Terrors die Zahl der überwachten Personen zwischen Mai und November 2023 von 743 auf 779.
Kaum Angaben zu jugendlichen Radikalen
Allerdings zeigen diese Zahlen nur Verfahren gegen Erwachsene. Für die Strafverfolgung von Minderjährigen wie dem 15-jährigen Zürcher Angreifer sind die Jugendanwaltschaften der Kantone zuständig. Die Oberjugendanwaltschaft Zürich schreibt auf Anfrage des Beobachters, sie könne keine Zahlen nennen oder weitere Infos zu Strafverfahren geben. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen schreibt, sie führe einzig das Verfahren gegen die zwei im März festgenommenen Jugendlichen. Weitere gab und gebe es nicht.
Derweil warnen Fachleute davor, die Terrororganisation zu unterschätzen. «Der IS ist zwar weniger aktiv als vor zwei Jahren, aber der Islamische Staat ist nicht verschwunden», sagt Aaron Y. Zelin. Die Organisation sei einfach nicht mehr so stark in den westlichen Nachrichten präsent. «Nur weil man ein Problem nicht beachtet, heisst es nicht, dass es nicht da ist. Das zeigte der IS-Anschlag in Moskau vom 22. März 2024, bei dem 143 Menschen starben.»
Islamistische Angriffe nehmen in der Subsahara zu
Für viele mag der Angriff überraschend gekommen sein, nicht aber für Zelin. Die afghanisch-pakistanische Chorasan-Gruppe, die den Anschlag in Moskau für sich reklamierte, habe Operationstruppen ausserhalb ihres Gebiets bilden können und sei weltweit für 22 Pläne und Angriffe allein im vergangenen Jahr verantwortlich. Und in Subsahara-Ländern wie Mali, Nigeria, Burkina Faso und Mosambik beherrscht der IS weite Territorien, die Angriffe haben zugenommen. «Es ist der Terrororganisation gelungen, sich zu diversifizieren», sagt Zelin.
Tunesien galt als Brutstätte von Dschihadkämpfern
Doch die Territorien, die der IS heute beherrscht, sind weit weg. Wie also gelingt es der Terrororganisation, mit ihrer Propaganda Jugendliche wie den Attentäter aus Zürich so zu umgarnen, dass ihre Botschaft trotz den komplett unterschiedlichen Lebenswelten verfängt?
Antworten zum konkreten Fall gibt es vorderhand nicht, die Zürcher Jugendanwaltschaft ermittelt noch. Wie die «NZZ» herausfand, lebte der 15-Jährige, der im Alter von drei eingebürgert wurde, ab 2017 während vier Jahren in einer Stadt im Norden Tunesiens. Ob er in dieser Zeit mit dem Gedankengut des IS in Kontakt kam, ist nicht bekannt. Klar ist aber: Terrorismus war in Tunesien zwischen 2011 und 2019 ein akutes Problem. Das Land galt als Brutstätte junger Dschihadkämpfer, sagt Aaron Y. Zelin. «Erst in den letzten fünf Jahren ist es dem Land gelungen, radikale Kreise aufzuspüren und zurückzudrängen.»
Propaganda in Memes verpackt
Zelin sagt, verschiedene Faktoren könnten dazu führen, dass sich jemand radikalisiert. Manche fühlen sich von der Dschihad-Ideologie angezogen, andere wollen eine Bedeutung im Leben erhalten, sich von der Sünde reinwaschen, den Islam nicht richtig befolgt zu haben. Oder sie wollen einfach einen Vorwand, um Gewalt anzuwenden.
Auf der Suche nach einem Weg treffen diese Jugendlichen im Netz dann auf einen digitalen Salafismus, der heute geschickt die westliche Lebenswelt mit radikalen Inhalten kombiniert. Etwa mit islamistischen Memes. Dieser digitale Auftritt wird als Islamogram bezeichnet. «Die Islamisten vermischen homophobe, frauenfeindliche und antisemitische Inhalte mit westlichen Inhalten, etwa dem berühmten Webcomic ‹Pepe der Frosch›», sagt Moustafa Ayad, Sozialwissenschaftler am Institute for Strategic Dialogue in Washington, D.C. Er hat das Phänomen und die Bildsprache der salafistischen Bewegung der Generation Z vor vier Jahren in einer Studie beleuchtet.
IS-Propaganda nimmt rasant zu
Dabei sei oft schwer zu unterscheiden, was eine ernst zu nehmende Drohung und was ironisch gemeint sei. «Trotz seiner konservativen Einstellung hat sich der Salafismus ständig an die Medien der Zeit angepasst, um neue Generationen und Anhängerschichten zu erreichen», sagt Ayad. Die Aktivität der Salafisten nehme rasant zu: Zwischen 2019 und 2021 stellten die Forscher eine Verdoppelung der Posts in den arabischen Onlinecommunitys fest, im deutschsprachigen Raum nahmen sie um 77 Prozent zu.
Für den «Tages-Anzeiger» analysierte Ayad einige der Onlineprofile des Zürcher Angreifers. Er kam zum Schluss: «Ich habe noch nie einen Attentäter wie jenen in Zürich gesehen, der so direkt mit dem Online-Ökosystem des Salafismus und der Bilderwelt des Islamogram verknüpft ist.»
Gebete führen zu brutalen Videos
Auch über die Gamingplattform Discord oder auf Tiktok sind die Islamisten sehr aktiv. Manche versteckt, andere nutzen ganz offen Namen bekannter islamistischer Ideologen für ihre Profile. Auf Tiktok teilen sie die Ansprachen und Gebete dieser Anführer, indem sie die Tonspur über diverse Videos legen, und verbreiten ihre Botschaft so über die ganze Welt, sagt Ayad. «Die IS-Propaganda ist heute ein plattformübergreifendes Phänomen, das über die klassischen Kanäle wie Facebook, Twitter, Youtube und eigene Webseiten hinausgeht.»
Wenn man auf Tiktok die Tonspur dieser Gebete anklickt, gelangt man rasch zu Videos von geschundenen jungen Männern in Sträflingskleidung in der Wüste. Oder von Gefangenen, die in einen Käfig eingesperrt in einem Fluss versenkt werden. Dazu die Aufforderung: Wer das Video in voller Länge sehen wolle, solle sich melden – was Dutzende in den Kommentarspalten tun.
Das Perfide: Selbst wenn Tiktok das Originalvideo vom Netz nimmt, bleibt die Audiodatei erhalten – und wird über neues Videomaterial gelegt. «Der Islamische Staat ist gut darin, seine Botschaft zu verbreiten, sie haben eine globale Dominanz», sagt Moustafa Ayad. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, übersetze die Organisation die Nachrichten in über 30 Sprachen – auch ins Deutsche.
«Die heroischen Videos junger Kämpfer und der Ruf, ihnen ins Kalifat zu folgen, hatten eine anziehende Wirkung. Doch sie funktionieren heute nicht mehr, weil es den Staat nicht mehr gibt», sagt Ayad. Aber die Botschaft heute sei viel umfassender: «Wenn du für uns kämpfst, kämpfst du im Namen aller echten Muslime. Denn der IS ist der Hüter des echten Glaubens.»
«Wenn Menschen durch den Islamischen Staat inspiriert sind, ist es schwierig, die Bevölkerung vor Angriffen zu schützen», sagt Ayad. Denn es brauche keine konkreten Handlungsanweisungen der IS-Führung. Die Attacke in Zürich zeigt, dass schon Propaganda als Aufruf zum Handeln verstanden werden könne. Und so resümiert Zelin: «Wir müssen wachsam bleiben und das Problem weiterhin verfolgen, sonst wird es weitere Vorfälle geben.»