SVP-Bundesrat Ueli Maurer und gewaltbereite Neonazis treibt das gleiche Thema um: Gender Diversity, die Vielfalt der Geschlechter. Bei seiner Rücktrittsankündigung sagte Maurer über seine Nachfolge: «Solange es kein Es ist, geht es ja noch.» Zwei Wochen später stürmten vermummte Rechtsextremisten eine Vorlesestunde von Dragqueens für Kinder am Zürcher Tanzhaus. Ihre Parole: «Familie statt Gender-Ideologie.»
In den letzten Wochen haben die Debatten um sexuelle und geschlechtliche Freiheiten einen neuen Höhepunkt erreicht. Oder besser: einen Tiefpunkt. Rechte Kreise übernahmen die Deutungshoheit, Diskriminierung der LGBTQ-Gemeinschaft wird salonfähig.
In der rechtsextremen Szene der Schweiz verschiebt sich gerade der Fokus. Waren die Hauptfeinde bisher stets die Gleichen –Muslime, Geflüchtete, Linke –, sind an ihre Stelle nun Queers und Transpersonen geraten. Diversität hat die Szene zwar schon immer abgelehnt, das männerbündlerische Milieu sieht die weisse Kernfamilie bedroht. Neu ist jedoch, dass der Kampf dagegen ihr Agitationsfeld Nummer eins ist.
Die SVP als Erfüllungsgehilfin
Zufall ist das nicht, vielmehr Strategie. Die Rechtsextremen knüpfen an aktuelle Debatten an, bedienen Ressentiments, die in der Mitte der Gesellschaft ankern. Wenn die SVP gegen das «Gender- Gaga der links-grünen Moralisten» schiesst, nehmen die Neonazis die Provokation dankend auf – die Hemmschwelle sinkt.
Am erfolgreichsten auf das Thema setzt die Junge Tat. Die neurechte Gruppierung hat sich Anfang Woche zur Störaktion am Tanzhaus bekannt. Bereits im Juni attackierte sie in Zürich mutmasslich einen Pride-Gottesdienst – die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Mit ihrem hippen Auftreten und professionell produzierten Propagandavideos schafft es die Junge Tat, den Rechtsextremismus wieder attraktiv erscheinen zu lassen. Durch ihre Antigenderaktionen erhofft sie sich Anschlussfähigkeit im rechtsbürgerlichen und christlich-konservativen Lager.
Am Mittwoch verurteilten die Fraktionen des Zürcher Gemeinderats die rechtsextreme Attacke auf die Dragqueen-Vorlesung. Nur die SVP konnte sich nicht zu einer Distanzierung durchringen. Im Gegenteil: Ihre Gemeinderäte nahmen die Kritik der Neonazis auf und verlangten in einem Vorstoss die sofortige Absetzung der Veranstaltungsreihe. Die grösste Partei des Landes als Erfüllungsgehilfin für Neonazi-Anliegen. Ein führendes Mitglied der Jungen Tat jubelte denn auch auf Twitter: «Wir begrüssen dies. Aktivismus wirkt!»
Die Rhetorik LGBTQ-kritischer Kreise gleichen sich an, die Parolen ähneln sich. Im «NZZ»-Feuilleton fallen mittlerweile dieselben Schlagwörter wie in den Telegram-Chats der Rechtsextremisten: «Gender-Mainstreaming», «Trans-Hype», «Queer-Ideologie».
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Gender-Hass ist ein internationales Phänomen
Für die Junge Tat geht die Strategie auf. Allein ihr Aufmarsch vor dem Tanzhaus bescherte der Gruppierung in der letzten Woche zwei Titelseiten in der meistgelesenen Zeitung des Landes: «20 Minuten». Ebenfalls letzte Woche markierte die Mitte-Partei mit ihrem Instagram-Account ein Posting der Jungen Tat mit «gefällt mir» – angeblich aus Versehen. «20 Minuten» liess seine Leserinnen und Leser online über den Like abstimmen. 26 Prozent votierten für: «Ich finde es gut. Schade, dass die Mitte den Like nun entfernt hat.» Dann löschte das Portal die Abstimmung.
Die Kampagnen gegen sexuelle und geschlechtliche Freiheiten dürften sich in den nächsten Monaten und Jahren weiter intensivieren. Erst kürzlich warnte der deutsche Verfassungsschutz: «Da die Themen Diversität und Gleichberechtigung zunehmend in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Wahrnehmung rücken, ist damit zu rechnen, dass Rechtsextremisten zukünftig noch stärker versuchen werden, diese Themen ideologisch zu besetzen.»
Der Angriff auf LGBTQ-Rechte ist ein internationales Phänomen. Mit dem Kampf gegen Transgenderanliegen haben sich die Anfeindungen noch einmal verschärft. Neonazi-Gruppen, christlich-konservative Parteien und autoritäre Regierungen versuchen immer offensiver, ihr Moralverständnis von Gesellschaft durchzusetzen. In der westlichen Welt nahm die USA dabei eine unrühmliche Vorreiterrolle ein. Seit Jahren macht sich in den Vereinigten Staaten eine moralische Panik breit – entzündet und angefacht durch Alt-Right und Evangelikale. Auch die Republikanische Partei ist längst auf den Zug aufgesprungen und versucht in den von ihr dominierten Bundesstaaten, Queer-Rechte zu beschränken, vor allem diejenigen von Transmenschen.
Neonazi erschiesst zwei Homosexuelle
Die rechtsextreme Szene in Europa hat sich ihre Antigenderstrategie denn auch bei Gesinnungskameraden in den USA abgeschaut. Im vergangenen Juni wollten in Idaho Dutzende Patriot-Front-Milizen einen Pride-Anlass angreifen. Die Polizei konnte sie gerade noch rechtzeitig aufhalten und verhaften.
Die festgenommenen Männer waren mit weissen Schlauchschals vermummt, genauso wie die Störer der Jungen Tat in Zürich. Zu ähnlichen Aktionen gegen Pride-Veranstaltungen kam es in den letzten Monaten auch in Österreich, Deutschland und Frankreich.
Dass die militante Rhetorik der Neonazis in Gewalt gipfeln kann, zeigte sich vor zwei Wochen in der Slowakei. In Bratislava erschoss ein Rechtsextremist zwei Schwule vor einem LGBTQ-Club. Queerfeindlicher Terror. Auf Twitter veröffentlichte der Täter kurz vor dem Anschlag ein 60-seitiges Manifest voller Hass und Homophobie.
In der Schweiz blieb es bisher meist bei verbalen Anfeindungen und Einschüchterungsaktionen. Die Stimmung aber ist aufgeheizt wie nie. Als die nonbinäre Schweizer Autorenperson Kim de l’Horizon den deutschen Buchpreis gewann, explodierten die Kommentarspalten der sozialen Medien. De l’Horizon sei ein «Monstrum», ein «Pädophiler», ein «Psychopath». Sein preisgekröntes Buch «Schwachsinn», «krankhafte Ideologie», «Teufelswerk». Wegen Drohungen engagierte der Verlag einen Sicherheitsdienst zum Schutz der Autorenperson.
Kim de l’Horizon meldete sich daraufhin in einem viel beachteten Essay in der «NZZ» zu Wort. Und schrieb direkt an Ueli Maurer, der Menschen wie de l’Horizon als «Es» abgewertet hatte: «Sie schicken mir Fäuste, ich küsse sie. Sie leugnen meine Existenz, ich blühe.» Und weiter: «Ich für meinen Teil würde Sie gerne besser verstehen. Deshalb lade ich Sie ein, mich auf ein Bier zu treffen.»
Maurer schlug das Angebot aus.