Milena Moser über Kim de l'Horizon
Horizonterweiterung

Literatur ist Geschmacksache. Deshalb ist die Frage, ob ein bestimmtes Buch einen Preis verdient hat oder nicht, müssig. Doch die aktuelle Diskussion über die Verleihung des Deutschen Buchpreises an Kim de l'Horizon hat eh nichts mit Literatur zu tun.
Publiziert: 24.10.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2022 um 08:01 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
Milena Moser

Es ist nicht das Werk, das die Gemüter erregt. Es ist die Person. De l'Horizon definiert sich als non-binär. Ja. Das ist, so weit ich erkennen kann, alles. Das ganze Problem. Und das ist mein Problem: Da komme ich nicht mehr mit.

Dass zwei Geschlechter nicht alle möglichen Lebensformen abdecken, ist seit Anbeginn der Menschheit und in allen Kulturen bekannt. Die meisten indigenen Sprachen haben Begriffe dafür, oft wurden auch besondere Fähigkeiten oder eine privilegierte soziale Stellung damit verbunden. Mit diesen alten Kulturen wurde aber offenbar auch das Verständnis ausgerottet, denn heute werden trans und non-binäre Menschen nicht nur von rechtsradikalen und religiösen Politikern und Gruppierungen angegriffen, sondern auch von Frauen, von Feministinnen. Das verstört mich zutiefst. Denn ich bezeichne mich durchaus als Feministin. «Ehrensache», wie Pipilotti Rist einmal so schön sagte. Doch jetzt muss ich mich von diesem Begriff distanzieren, ich muss ihn erklären, relativieren. Geschenkt: Frauen sind immer noch benachteiligt, im Literaturbetrieb wie überall sonst. Hart erkämpfte Frauenrechte sind bedroht. Amerika, das Land, in dem ich lebe, marschiert gerade mit Siebenmeilenschritten in die Finsternis zurück. Aber diese Bedrohung, diese Benachteiligung geht doch nicht von der queeren Community aus! Müssen wir die Solidarität jetzt mit dem Fingerhut abmessen und so sparsam verteilen, dass sie am Ende nur noch für unser einen reicht? Aber wer ist denn unser einen?

Wenn ich mir ein Etikett aufkleben müsste, dann wäre es das einer als Frau geborenen Frau und Mutter. Trotzdem kann ich mit sehr vielen Menschen, die diese Prädikate mit mir teilen, rein gar nichts anfangen. Manche machen mir Angst, verursachen mir Albträume, wie zum Beispiel die Mütter, die Bücher verbieten und Musik zensieren wollen. Oder die vor dem Stadthaus demonstrieren und frisch verheirateten Paaren mit Teufel und Höllenfeuer drohen. Umgekehrt empfinde ich oft eine tiefe Verbundenheit mit denen, die sich komplett anders definieren. Denn in erster Linie sind wir Menschen. Menschen, die Erfahrungen machen, die Gefühle haben. Uns verbindet so viel mehr, als uns trennt.

Die geschlechtliche Identität und die sexuelle Orientierung eines anderen Menschen ist doch nur dann relevant, wenn mein eigenes sexuelles Interesse geweckt ist, was eher selten vorkommt. Ob ich mit jemandem diskutieren, befreundet sein, zusammenarbeiten, verreisen, Kaffee trinken, ein Zugabteil teilen, ob ich jemandem meine Kinder, Katzen, Bücher und Texte anvertrauen will, hat damit nichts zu tun. Ob ich jemanden mag oder nicht, hat damit nichts zu tun. Ob ich mich in ein Buch verliebe oder nicht, hat nichts mit der Person zu tun, die es geschrieben hat.

Seit früher Kindheit empfinde ich jedes Buch, das meinen Horizont erweitert (ja, der musste jetzt sein), als Bereicherung. Mehr noch, als rettenden Anker, als Trost. Und so ist auch jeder Mensch, der mit seiner Existenz und seinem Verhalten andeutet, dass es da noch mehr gibt, noch anderes, dass das Leben vielfältiger und bunter sein kann, ein Geschenk. Eine Bereicherung für uns alle. Denn wir brauchen dringend mehr. Mehr von allem. Mehr Möglichkeiten, mehr Farbe, mehr Liebe, mehr Platz in unseren Herzen.

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