Milena Moser
Der unscheinbare Held

Wie nennt man einen Menschen, der nicht nur ein Leben gerettet hat, sondern mehr, als er aus dem Gedächtnis aufzählen kann? Der das nicht an die grosse Glocke hängt, am liebsten nicht erwähnen würde, weil er es für das Normalste hält? Einen Engel. Einen Helden. Jim.
Publiziert: 26.09.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2022 um 17:40 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Ich nenne ihn Jim. Er ist ein unauffälliger, älterer Mann in schlecht sitzenden Jeans und schief getretenen Schuhen. Doch für uns ist er ein Held. Und so begrüssen wir ihn auch. «Das ist Jim, der damals Victors Leben gerettet hat», stelle ich ihn den anderen Gästen vor. Jim winkt bescheiden ab, doch damit lasse ich ihn nicht durchkommen. Ich erzähle jedes Mal die ganze Geschichte: Wie Victor nach seiner Nierentransplantation eine ganze Schublade voller Medikamente benötigte, um das neue Organ am Leben zu erhalten. Doch seine Krankenkasse hatte ihn aus unerfindlichen Gründen als ‹verstorben› im System gespeichert und weigerte sich deshalb, diese Medikamente auch zu bezahlen. So hätte die Versicherung ihren Fehler schnell zur Realität gemacht, denn ohne diese Medikamente wird das neue Organ unweigerlich vom Körper abgestossen. Freunde protestierten, sie sammelten für Victor, einer fuhr sogar selbst zur Apotheke, um die Kosten zu übernehmen. Doch als sich herausstellte, dass sich der Betrag auf über 10'000 Dollar belief, musste er passen. Kleinlaut rief er Victor an: «So viel hab ich nicht auf der Bank, sorry!»

Da sprang Jim ein, der Apotheker. Er kannte Victor seit Jahren, hatte seine Leidenszeit mit der Dialyse mitverfolgt und mit ihm der Transplantation entgegengefiebert. So händigte er dem Freund das ganze Medikamentenpaket aus. «Sagen Sie Victor, er soll einfach vorbeikommen, wenn er sich besser fühlt.» Das tat er, aber bezahlen konnte er ihn nicht. «Lass gut sein», sagte Jim. «Du hast schon genug durchgemacht.» Monat für Monat schob er ihm die überlebenswichtigen Medikamente zu, bis die schwerfällige Bürokratie endlich ihren Fehler erkannt und behoben hatte. Ohne Jim wäre Victor heute nicht hier.

Doch er wehrt unsere Dankbarkeit ab, fast ist sie ihm peinlich. «Das System ist kaputt, das wissen wir alle. Ich war in einer Position, in der ich helfen konnte, also hab ich es getan.»

Die Einzige, die das nicht so richtig toll findet, ist seine Frau Cindy. «Das hättest du eben nicht tun dürfen», bricht es aus ihr heraus.

«Wie kannst du so etwas sagen?», widersprechen andere Freunde.

«Ach, ihr habt ja keine Ahnung!» Und dann erzählt sie zum ersten Mal ihre Seite dieser Heldensaga. Erzählt, wie sie nachts oft wach lag vor Sorgen um ihren Mann, den Vater ihrer drei Kinder, der nicht nur seine Stelle riskierte, sondern auch eine strafrechtliche Verfolgung.

Ich werde still. Tatsächlich habe ich mir nie überlegt, dass so teure Medikamente nicht einfach verschwinden können. Dass es auffallen muss, wenn sie es tun. Dass so ein monatliches Loch in der Kasse untersucht und geahndet wird. Jim war ja nicht der Besitzer der Apotheke, er war angestellt. Mir kommen die Tränen, während ich Cindy zuhöre. Beschämt senke ich den Kopf.

«Schon gut», sagt sie. «Victor war ja nicht der Einzige! Er hat das für so viele getan, mehr, als ich zählen könnte.»

«Mehr als ich dir erzählt habe», murmelt er.

Wie nennt man einen Menschen, der so etwas tut? Einen Engel. Einen Helden.

«Einen Idioten», sagt Cindy, aber sie sagt es liebevoll. Sie boxt ihren Mann in die Seite, und dann küsst sie ihn. Ich schneide den Kuchen an.

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