Milena Moser über starke Menschen
Zwei Leben

Zwei Männer, einer aus Texas, einer aus dem Thurgau, einer wird bald 80, der andere 90. Keinem von beiden sieht man ihr Alter an. Und das ist nicht das Einzige, was sie gemeinsam haben.
Publiziert: 05.09.2022 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.09.2022 um 19:39 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
Milena Moser

Cesar schaut mich durchdringend an. «Ich bin ja noch so erzogen worden, dass man Weissen nicht in die Augen schaut.» Rosa, seine Frau, nickt bestätigend. «Das brachte Ärger. Dafür konnte man eingesperrt werden.» Ich senke meinen Blick, unbestimmt beschämt. Cesar ist ein charismatischer Mann, eine auffällige Erscheinung. Langes, weisses Haar, zum Zopf geflochten, Seehundschnurrbart, klobiger Türkisschmuck und eine mit Abzeichen bestickte Lederjacke. Er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, und sein Leben bietet auch mehr als genug Stoff. Er ist als Kind von mexikanischen Feldarbeitern in Texas aufgewachsen. Seine Eltern hatten keine Schulbildung, keine Möglichkeiten, keine Zukunft ausser auf den Feldern. Amerika war das Land der unbegrenzten Hoffnung. Aber die Realität war brutal.

«Daran hat sich nicht viel geändert», mischt sich Rosa ein. Sie war Lehrerin hier, in dieser kleinen Stadt im fruchtbaren Hinterland. Sie hat die Kinder von Generationen von Feldarbeitern unterrichtet.

Cesars erster Job als Tellerwäscher bedeutete einen sozialen Aufstieg. In dem Restaurant, in dem er arbeitete, traf sich jede Woche der Ku-Klux-Klan. «Whites Only» stand gross über dem Eingang. Doch der Koch, ein alter Grieche, bewirtete am Hintereingang heimlich die mexikanischen Arbeiter. «Die grössten Portionen, die besten Leckerbissen, die gab es an der Hintertür, nicht vorne im Lokal!» Cesar trat der Armee bei, um studieren zu können. Als Lokalpolitiker und Aktivist setzt er sich bis heute für die Rechte der Feldarbeiter ein. Aber er tritt auch als Schauspieler auf und ist Präsident des lokalen Motorradklubs. Die Lederjacke ist kein modisches Statement: Die Abzeichen erinnern an verstorbene Mitglieder.

Immer wieder geht die Tür auf, die nicht verschlossen ist. Nachbarn und Freunde kommen in die Küche, nehmen sich ein Stück Kuchen, schenken sich Kaffee ein, setzen sich eine Weile zu uns. Immer wieder muss ich erzählen, wer ich bin und wo ich herkomme.

«Ich wette, so einen wie Cesar gibt es in der Schweiz nicht», behauptet einer.

«Doch», sage ich, beinahe trotzig.

Ich denke an unseren Freund Karl. Er trägt keine Lederjacken, sondern Anzüge. Keinen Türkisschmuck, sondern Siegelringe und Krawattennadeln. Aber auch er ist ein begnadeter Erzähler, auch sein Leben würde Buchdeckel sprengen. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wurde er als Verdingkind zu einer Bauernfamilie gegeben, wo er ausgebeutet, verprügelt und ausgehungert wurde. Und trotzdem schaffte er den abenteuerlichen Weg vom Schulabbrecher und Ausreisser über den Seemann zum erfolgreichen Geschäftsmann. Äusserlich waren es andere Umstände als bei Cesar, in einer anderen Umgebung. Doch im Wesentlichen haben die beiden Männer etwas sehr Ähnliches erlebt. Ihnen beiden wurde von klein auf klargemacht, dass sie Menschen zweiter Klasse waren. Dass sie keine Rechte hatten, und auch keine Zukunft. Doch sie weigerten sich, diese Bestimmung zu akzeptieren, sie sprengten die ihnen auferlegten Grenzen. Mit welcher Kraft, und zu welchem Preis, das kann ich mir nicht vorstellen.

Cesar nickt. «Das ist der Spirit», sagt er und klopft an sein Brustbein. «Entweder du hast ihn, oder du hast ihn nicht.»

Sie würden sich mögen, denke ich.

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