Es war Victor, der unbedingt hingehen wollte. Nicht dass ich keine patriotische Ader hätte – die habe ich durchaus, vor allem seit ich nicht mehr in der Schweiz lebe. Aber ich musste am nächsten Morgen um halb fünf aufstehen.
«Wir müssen ja nicht lange bleiben», überredete mich Victor. «Und vielleicht servieren sie wieder dieses Cheese Thing!» Er meinte ein Raclette. Doch Victor liebt die Einladungen des Schweizer Konsulats nicht nur, weil das Essen immer so gut ist. «Die Schweizer sind so viel offener und toleranter als wir. Die Mexikaner sind so in ihrem Klassenbewusstsein gefangen, die lassen dich nie vergessen, dass du nur ein sandalentragender Indio bist, der es zu Hause nie so weit hätte bringen dürfen.» «Offen» und «tolerant» sind nun nicht die ersten Begriffe, die mir im Zusammenhang mit der Schweiz einfallen. Aber ich habe gesehen, wie er von seinen spanischstämmigen Landsleuten behandelt wird. Und es stimmt, von Schweizer Seite schlägt ihm nur echtes Interesse und Respekt entgegen. Alles ist relativ, auch das Heimatgefühl.
So machten wir uns gegen Abend auf den Weg. Victor trug einen roten Hut mit einem Schweizer Pin am Hutband und seine Schweizer Bahnhofsuhr am Arm. Als wir ankamen, spielte eine Alphornkapelle gerade die Nationalhymne. Zu meiner eigenen Überraschung war ich beinahe zu Tränen gerührt, obwohl ich mich kaum an die erste Strophe erinnere. Im Verlauf des Abends, im Gespräch mit anderen Anwesenden, fand ich meine eigene Erfahrung bestätigt: Je länger man weg ist, desto verklärter sieht man sein Heimatland. Am begeistertsten äusserten sich die, die die Schweiz nur aus Erzählungen ihrer nicht immer freiwillig ausgewanderten Grosseltern kannten. Man vergisst, dass auch in der Schweiz einmal die Art von Armut herrschte, die zu verzweifelten Taten führt.
«Was ist Ihr Bezug zur Schweiz?», war an diesem Abend immer die erste Frage.
«Der Käse», sagte Victor. «Und meine Frau.» Ja, den Käse erwähnte er zuerst, und nicht nur deshalb, weil kein Cheese Thing serviert wurde, sondern ein (hervorragendes) Züri-Gschnätzletes. Dann erzählte er von seiner Zeit als Vorstandsmitglied des Indianerrats in Mexiko – so hiess der damals, von Indigenen war noch nicht die Rede. Nur so erklärt sich auch die Gruppe von hellhäutigen, blonden Männern in Latzhosen und Strohhüten, die sich zur Jahresversammlung einfand. Die Definition für einen unabhängigen Indianerstamm, nämlich eine eigene Sprache, eigene Gebräuche und eine eigene Art, sich zu kleiden, traf nun mal auch auf die Mennoniten zu. Welche somit offiziell als Indios galten und auch so registriert wurden. Indigen waren sie natürlich nicht, sondern mehrheitlich aus der Schweiz eingewandert – und so schliesst sich der Bogen wieder.
Die Mennoniten machen den besten Käse Mexikos, dem Schweizer Käse nicht unähnlich, auf jeden Fall mit ihm verwandt. «Das ist mein Bezug zur Schweiz. Und Knorr Suiza natürlich, das auch in der mexikanischen Küche eine wichtige Rolle spielt.» Da das K stumm ist, reagierten seine Gesprächspartner so verwirrt wie ich, als er dieses geheimnisvolle Gewürz zum ersten Mal erwähnte. «'Norr Suiza? Das gibt es bei uns nicht!» Da zeigte er mir die gelbe Aromatdose. Wir sind nicht so verschieden, wie wir glauben.