Bernie und Ruth wirken gestresst, als ich sie zufällig im Café an der Ecke treffe. Ich habe sie vor über zwanzig Jahren kennengelernt, als ich zum ersten Mal nach San Francisco gezogen war. Jetzt wohnen wir zufällig im selben Quartier und laufen uns immer wieder über den Weg. Ich lasse mir meinen doppelten Espresso, den ich eigentlich zu Hause trinken wollte, in eine Tasse umfüllen und setze mich zu ihnen. Ruth schiebt mir den Teller mit ihrem angebrochenen Mandel-Croissant zu. Ich breche ein Stück ab.
«Eigentlich freuen wir uns ja», sagt Bernie, der sich hier Börnie nennt.
«Mega», nickt Ruth. «Wir wollen auch gar nicht jammern ...»
«Aber ...?» Es stellt sich heraus, dass sich zum ersten Mal seit der Pandemie wieder die halbe Verwandtschaft zum Besuch angemeldet hat. Ihre für Stadtverhältnisse grosszügige Wohnung wird den ganzen Sommer über ein «Hotel Helvetia» sein.
«Und du weisst ja, wie es ist», sagt Ruth. «Es wird den ganzen Sommer darum gehen, wie teuer alles ist!»
Reisende aus der Schweiz erwarten nämlich automatisch, dass es überall sonst auf der Welt billiger ist als zu Hause. Oft ist das so, aber nicht immer, und auf jeden Fall nicht hier. San Francisco ist eine der teuersten Städte der Welt, auch wenn sie sich recht schäbig und abgehalftert präsentiert. Die öffentlichen Verkehrsmittel schnaufen und knattern erbarmungswürdig, die Strassen sind von Obdachlosen in Beschlag genommen, der Abfall türmt sich allenthalben, es riecht auch vor den teuersten Restaurants oft nicht sehr einladend. Doch die Preise widerspiegeln das nicht, ganz im Gegenteil.
«Und dann immer die Diskussionen um das Trinkgeld», schimpft Bernie. «20 Prozent, das kann man sich doch merken!»
Ich schlucke den letzten Bissen hinunter, irgendwie ist Ruths Croissant in meinem Magen verschwunden. «Es geht wohl weniger ums Sich-merken-Können als ums Akzeptieren», vermute ich. In Amerika ist nämlich nicht nur das Trinkgeld nicht inbegriffen, es werden auch noch fast zehn Prozent Steuer draufgeschlagen, so dass jede Mahlzeit gut ein Drittel mehr kostet, als die Speisekarte vermuten lässt – was von vornherein nicht gerade wenig war.
Und der Unmut über diese Tatsache scheint selbst die weltoffensten und in der Heimat freundlichsten Menschen zu seltsamen und peinlichen Verhaltensweisen anzuregen. Wir haben es alle schon erlebt: Unsere Freunde zerlegen plötzlich jede Rechnung in ihre Einzelteile, trennen akribisch ihren Salat von unserem Sandwich, lassen sich zum x-ten Mal die Sache mit dem Trinkgeld erklären, nur um dann zu entscheiden, das sei ihnen zu blöd, dieses System unterstützen sie nicht.
Sie haben natürlich recht, das System ist eine Zumutung – doch nicht für uns, sondern für die Angestellten. Und wir, die wir hier leben, die wir die Kellnerinnen in unseren Lieblingsrestaurants kennen und schätzen, wir winden uns vor Verlegenheit, wir verdrehen entschuldigend die Augen und legen heimlich im Gehen noch eine Note dazu. Es sollte nicht Trinkgeld heissen, sondern Überlebensgeld, sinniere ich.
Umgekehrt lege ich allerdings meine amerikanischen Trinkgeldgewohnheiten auch nicht ab, wenn ich wieder in die Schweiz reise. «Das ist viel zu viel», sagen meine Freunde dann.
Nein. Es ist nie zu viel. Man kann nie zu grosszügig sein.