Milena Moser
Auf der Suche nach der nicht verlorenen Zeit

Ausgerechnet der sparsamste, um nicht zu sagen geizigste meiner Freunde hat mir das vielleicht luxuriöseste, dekadenteste Wochenende meines Lebens beschert. Und Erinnerungen an eine längst verloren geglaubte Zeit geweckt.
Publiziert: 30.05.2022 um 09:13 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
Milena Moser

«Danke, Jack!» Das war unser Mantra. Immer wieder hoben wir unsere Champagnergläser oder Espressotassen, unsere mit Gurkenwasser gefüllten Pappbecher. Ohne Jack wären wir jetzt nicht hier, alle zusammen, an diesem unwirklich schönen Ort.

Als wir vor zwanzig Jahren in San Francisco lebten, war Jack unser Nachbar. Er schien uns damals schon alt, und meist schimpfte er über irgendetwas oder irgendjemanden. Wir halfen ihm, schwere Einkäufe nach Hause zu tragen, ich fuhr ihn zu Arztterminen und zur Post, die ganz unten am Fuss unserer steilen Strasse lag.

«Früher bin ich nach der Arbeit diesen ganzen Hügel hochgerannt, ohne einmal innezuhalten», knurrte er. Dass wir wegzogen, nahm er uns lange übel. «So gute Nachbarn hatte ich nie mehr!» Letztes Jahr ist er gestorben und hat mir ganz unerwartet eine kleine Summe vermacht. Und ich wusste sofort: Ich würde den ganzen Betrag mit meinen Kindern auf den Putz hauen, und zwar an einem einzigen Wochenende. Auch wenn das überhaupt nicht in Jacks Sinn war. Fast konnte ich ihn knurren hören, das Geld sei für einen Notfall gedacht.

«Sehnsucht ist auch ein Notfall», knurrte ich zurück und erkundigte mich bei meinen weltgewandteren Freunden nach dem schönsten Luxushotel in erreichbarer Nähe. Ihre Antwort ernüchterte mich: «Ouuuuuu», sagten sie und legten die Köpfe schief. «Das ist gar nicht so einfach!» Offenbar geht nämlich Geld nicht automatisch mit Anstand einher, sodass man sich in den teuersten Hotels oft in der schlechtesten Gesellschaft befindet. Während sie mir noch Suchbegriffe wie «traditionell» und «altmodisch» einschärften und «es darf ja keinen Club haben! Und kein Erlebnisbad!», erinnerte ich mich plötzlich an ein ähnlich absurd-verrücktes Abenteuer vor mehr als dreissig Jahren. Damals wollte ich mit zwei Buchhändlern, wovon einer mein Mann und der andere ein erklärter Proust-Fanatiker war, im legendären Grand Hotel in Cabourg Ferien machen. Dort, wo Proust seine Bücher geschrieben hat. Wir bereiteten die Reise lange vor. Ich sehe mich noch auf meiner mechanischen Schreibmaschine eine Anfrage tippen – offenbar traute ich mich nicht, zu telefonieren. Ich erinnere mich auch an das höfliche Antwortschreiben, das eine Preisliste enthielt. Und an meinen zweiten Brief: Leider sähen wir uns gezwungen, unseren Aufenthalt von vierzehn auf vier Tage zu verkürzen ...

Wir waren so aufgeregt, als würden wir der Königin von England vorgestellt. Würde man uns überhaupt in diesen Tempel der Weltliteratur und Eleganz einlassen? Was, wenn man uns gleich als armselige Hochstapler entlarvte? Sicherheitshalber liessen wir uns im Secondhandladen eines Freundes standesgemäss einkleiden – was immer wir uns darunter vorstellten. Ich erinnere mich an einen Tellerrock mit Petticoat und nietenbeschlagene, fransenbesetzte Gauchohosen. Doch einmal mehr hatten wir uns viel zu viele Gedanken gemacht. Wir waren nämlich mit Abstand die elegantesten Gäste im Haus – und die, die sich am besten benahmen.

Das alles war letztes Wochenende kein Thema. Ich hatte mir keine Gedanken gemacht und mir auch nichts vorgestellt. Ich wusste nur eins: Wir würden alle zusammen sein. An einem aussergewöhnlich schönen Ort. Wir würden essen und trinken und reden und jeden Moment geniessen.

«Und das, mein Freund, ist keine verlorene Zeit», erklärte ich dem knurrenden Geist unseres Freundes Jack.

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