Neulich war unser Freund Adam wieder zu Besuch. Er kommt oft nach seiner Arbeit auf dem Gemüsemarkt, die früh beginnt, aber auch früh wieder zu Ende ist. Der junge Musiker tobt sich mit Victors Instrumenten und Aufnahmegeräten aus, dafür hilft er ihm immer wieder bei seinen Installationen. Er ist Anfang dreissig, liegt also altersmässig genau zwischen meinen beiden Söhnen, was wohl erklärt, warum ich ihn immer füttern will. So sitzen wir auch an diesem Abend in einer musikalischen Pause am Küchentisch und essen Pizza. Adam erzählt uns von seiner Sehnsucht nach dem Dorf.
«Nach welchem Dorf?», frage ich. «Ich dachte, du kommst aus New York?»
Adam grinst. «Das ist es ja! Meine Freunde, ich, wir kommen von hier und von da, wir kennen uns von der Uni, vom Konservatorium, wir leben ein paar Jahre lang in derselben Stadt, dann versprengt es uns wieder.»
Ich verstehe immer noch nicht, von welchem Dorf er redet. Kein Wunder – das Dorf ist ein Symbol.
«Wir haben alle einen ähnlichen Hintergrund», erklärt Adam. «Wir sind Amerikaner in der vierten, fünften, sechsten Generation. Unsere Familien stammen aus Osteuropa, Russland, Deutschland, manche sind Juden, manche waren Kommunisten. Unsere Vorfahren sind nicht freiwillig ausgewandert, sie wurden vertrieben.»
«Niemand verlässt sein Land freiwillig», murmelt Victor. Ich schaue auf meinen Teller, der schon wieder leer ist, schiebe eine einsame Olivenscheibe zur Seite und denke: Doch, manche tun das durchaus.
«Wir haben eine Lebensform verloren, die wir gar nie gekannt haben», fährt Adam fort. «Und die es nicht mehr gibt. Aber manchmal fragen wir uns, ob das nicht besser war. Das, was unsere Vorfahren hatten.»
«Ach, du Hipster», knurrt Victor, aber er meint es nicht böse.
«Wir sehnen uns nach dem, was wir uns darunter vorstellen: Gemeinschaft, Zusammenhalt, Zugehörigkeit. Wäre es nicht toll, mit absoluter Sicherheit zu wissen, wo wir herkommen und hingehören, wer wir sind und wie wir leben sollen ...?» Er verstummt, und jetzt ist er es, der verlegen mit der Gabelspitze auf seinem Teller herumstochert, Zwiebelringe und Olivenscheiben herumschiebt.
«Ja, ja, schon klar», wehrt er Einwände ab, die wir gar nicht vorgebracht haben. «Wenn das wirklich unser Leben wäre, würden wir vermutlich sofort wieder ausbrechen wollen ...»
Ich lege noch mal Pizza nach, und das Gespräch mäandert zu verwandten Themen weiter. Heimat, Heimatgefühl, Patriotismus, der Krieg in der Ukraine, der Mut und die Tapferkeit der ukrainischen Bevölkerung.
«Das ist die andere Seite der Medaille», seufzt Adam. «Wenn ich mir vorstelle, ich wäre noch dort, in der ‹Alten Welt› ... Würde ich mich trauen, Widerstand zu leisten? Wäre ich bereit, zu kämpfen, zu sterben?»
Ich denke an die Bücher und Geschichten meiner Kindheit zurück, in denen es oft um die Nazizeit ging. Und wie ich immer absolut sicher war, dass ich in einer vergleichbaren Situation das Richtige tun würde: Anne Frank verstecken, das rosa Kaninchen retten. Doch seit ich kein Kind mehr bin, stelle ich diese frühe Gewissheit oft infrage. Bin ich nicht zu ängstlich, zu bequem, zu angepasst, um meine eigene Sicherheit zu gefährden? Ich schiebe meinen Teller zur Seite. Der Appetit ist mir vergangen.
«Und dann ist ja auch noch die Frage, wofür», fährt Adam fort, der von meinen düsteren Gedanken nichts ahnt. «Wofür wäre ich bereit, zu sterben?»
Victor steht auf und stapelt die leeren Teller aufeinander. «Für dein Dorf», sagt er. «Für dein symbolisches Dorf.»