Es war eigentlich unvermeidlich. «So viele Menschen, wie dir jeden Abend nahe kommen, und dann in geschlossenen Räumen ...» Meine Freundin, die Ärztin, zuckte nur mit den Schultern und breitete die Hände aus. «Was willst du ...» Ich war also darauf vorbereitet. Lieber hier als zu Hause, wo ich Victor gefährden könnte, dachte ich und hoffte nur, dass ich möglichst viele meiner geplanten Lesungen würde durchführen können. Abend für Abend sass ich am Büchertisch, signierte, plauderte, nichts passierte. Schnell gewöhnte ich mich an den ständigen Reigen des Abmachens, Absagens und Abwartens, der schon zum Alltag gehört. «Ist es nicht toll, dass die Pandemie endlich vorbei ist?», hörte ich immer wieder. Und ich dachte: Ist sie das? Und weiss das der Rest der Welt auch?
Als ich eines Abends mit Victor telefonierte, wirkte er trotz der späten Stunde geradezu aufgedreht. Er war zum ersten Mal seit Jahren wieder im Theater gewesen.
«Mach dir keine Sorgen», nahm er meine Fragen voraus. «Sie haben die halbe Zuschauerkapazität und die Maskenpflicht beibehalten.» Das ist auch in San Francisco nicht mehr vorgeschrieben, obwohl dort immer noch mehr Massnahmen eingehalten werden als hier. «Wir möchten Kultur wieder für alle zugänglich machen, auch für die Gefährdeten», begründete die Theaterleitung ihre Entscheidung, die von den Zuschauern ohne Murren mitgetragen wurde. Zu diesen Gefährdeten gehört Victor, der seit seiner Transplantation Medikamente nehmen muss, die sein Immunsystem unterdrücken. Ich hörte seinen begeisterten Ausführungen zu und dachte, Kultur gehört zu eindeutig zu den unverzichtbaren Dingen im Leben. Und ich dachte auch: Zum Glück ist er nicht hier.
Mitten in der Nacht wachte ich schweissgebadet und mit fürchterlichen Halsschmerzen auf und stieg in den Reigen ein: Testen, absagen, hinlegen. Kurz trauerte ich den verpassten Begegnungen mit meinen Leserinnen und Lesern nach, auf die ich mich so lange gefreut hatte, den verlorenen Stunden mit meiner Familie, mit meinen Freundinnen, die ich ohnehin schon viel zu selten sehe. Aber was hat es für einen Sinn, wegen Dingen zu weinen, auf die man nicht den geringsten Einfluss hat? Ausserdem war ich zu erschöpft, um mich aufzuregen.
«Nach fünf Tagen können Sie wieder alles ganz normal machen, wie immer. Und einen weiteren Test müssen Sie auch nicht machen», erklärte man mir im Testzentrum. Nach fünf Tagen musste ich mich nach dem Duschen immer noch gleich wieder hinlegen ...
Ich schreibe diese Kolumne langsamer als sonst. Für jeden Satz brauche ich ewig. Die Worte setzen sich nur zögernd zusammen. Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich ins Leere starre. Wie lange schon, denke ich jedes Mal. So vergehen die Tage, einer fliesst in den anderen. Alles ist verlangsamt und irgendwie verzerrt. Die heftigsten Symptome sind abgeklungen. Geblieben ist Schwindel, knochentiefe Müdigkeit und eben das Gefühl, mein Hirn sei durch Zuckerwatte ersetzt worden. «Mit anderen Worten, du hast keine Symptome», kommentiert mein Sohn. Der Frechdachs.
Es ist kein unangenehmer Zustand. Er wirft mich auf das Wesentliche zurück. Das macht im Grunde jede Form von Krankheit, akut, chronisch, lebensbedrohend oder nur mühsam: Sie hindert uns am Funktionieren. Und wer sind wir, wenn wir nicht funktionieren? Wenn wir nicht leisten und liefern? Was sind wir wert, wenn wir nur einfach sind?
Darüber werde ich nachdenken müssen. Wenn ich noch eine Runde geschlafen habe ...