Jeden Morgen komme ich an ihm vorbei, auf dem Weg zum Café an der Ecke. Er liegt unter einer Decke, sein dünner Körper gekrümmt, neben sich ein handbemaltes Pappschild. «DO NOT WAKE MY DEMON!» steht da. Weck meinen Dämonen nicht auf. Darunter eine eindrückliche Zeichnung, eine Fratze aus kräftigen roten und schwarzen Filzstiftstrichen. Ich zweifle keine Sekunde an der Realität dieses Dämonen.
Der Mann liegt abwechselnd hier und auf der anderen Strassenseite vor einer Bushaltestelle. Einmal habe ich ihm einen Schlafsack gebracht, ich weiss nicht, ob er ihn genommen hat. Weiter unten, direkt vor dem Café, sitzt mit gekreuzten Beinen und kurzgeschorenen Haaren wie eine buddhistische Nonne eine alterslose kleine Frau, die vielleicht Uma heisst, vielleicht aber auch Anna. Sie bleibt hier sitzen, bis sie etwas Geld gesammelt und einen Kaffee mit viel Milch getrunken hat, den ihr die Nachbarn abwechselnd bezahlen. In diesem Strassenstück haben wir uns miteinander arrangiert. Bekannte in anderen Stadtteilen erzählen, dass sie regelmässig bedroht werden, Angst haben, im Dunkeln nach Hause zu kommen, oder es schlicht satthaben, jeden Morgen Exkremente vor der Tür wegzuputzen. «So etwas habe ich noch nirgendwo gesehen», empören sich auch routinierte Reisende, wenn die Rede auf meine Stadt kommt.
Ich auch nicht.
Denn das gehört hier zum Strassenbild: Obdachlose auf dem Trottoir, in Hauseingängen, an Bushaltestellen, überall, in schicken Wohnvierteln wie in Geschäftsstrassen. Manche Strassenzüge sind von improvisierten Zeltstädten überzogen. In den heruntergekommenen Kleinbussen und Wohnwagen, die vor den Quartierzentren parkieren, leben allerdings zunehmend auch steinreiche junge Techies, die sich einer spartanischen Lebensweise verschrieben haben, um sich möglichst jung zur Ruhe setzen zu können. Sie sparen sich die teure Miete und tauschen in Onlineforen Tipps aus, wo es zum Beispiel die besten Duschen gibt. Und im Gegensatz zu echten Obdachlosen dürfen sie diese auch ungeniert benutzen.
Damit ist das Problem eigentlich schon erklärt. Oder eher, warum das Problem nicht gelöst wird: San Francisco ist eine teure und eine korrupte Stadt, von Geldgier zerfressen. Alles ist profitorientiert, auch Obdachlosigkeit ist ein Geschäft. Auflagen für sozialen Wohnungsbau werden mit Schmiergeld umgangen, Häuser mit bezahlbaren Wohnungen oder Wochenhotels regelmässig nachts abgefackelt, um Platz für rentablere Objekte zu machen. Gleichzeitig wird es immer leichter, durch die Maschen zu fallen. Die meisten sogenannten Mittelstandsfamilien sind nur einen Monatslohn vom Abgrund entfernt. So erging es meinen Freunden, einer Anwältin und einem Computerprogrammierer. Erst verloren sie nacheinander ihre Arbeitsstellen und damit ihre Krankenversicherung, dann stürzte das verschuldete Kreditkartenhaus über ihren Köpfen ein, und schon standen sie auf der Strasse.
«Und, was tust du?»
Ich tue nichts. Was kann ich tun? Ich zahle immer wieder mal für Umas Kaffee, oder vielleicht heisst sie ja auch Anna. Ich verteile Decken, ich versuche, die Dämonen nicht zu wecken. Es ist nicht genug.