Milena Moser
Bis zum letzten Tropfen

Mein Horoskop sagt, ich müsse ein besserer Mensch werden. Nein, genau genommen sagt es, jetzt sei der Moment, in dem ich das Potenzial habe, ein besserer Mensch zu werden. Wie ich das anstellen soll, das verrät es leider nicht.
Publiziert: 21.03.2022 um 11:56 Uhr
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Aktualisiert: 06.04.2022 um 10:15 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Kürzlich erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Zvg
Milena Moser

Die Gratiszeitung, die auf dem leeren Tramsitz neben mir liegt, berichtet über eine Frau, die zehn ukrainische Flüchtlinge bei sich aufgenommen hat. Das Bild zeigt die ganze Gruppe, oder eher die Familie, denn das steht unter dem Bild: Sie seien alle zu einer Familie zusammengewachsen.

Ich lese den Text mit dem vertrauten Anflug von schlechtem Gewissen. Es begleitet mich schon fast ein ganzes Leben lang, das Gefühl, nicht genug zu tun oder nicht das Richtige. Das Horoskop hat schon recht: Jetzt wäre tatsächlich der Moment. Nie war es wichtiger, ein guter Mensch zu sein oder das, was ich darunter verstehe: jemand, der nicht wegschaut, jemand, der zupackt, die eigenen Bedürfnisse zurückstellt, für andere da ist. Jemand, der sieht, was zu tun ist und es auch tut. Doch noch während ich das denke, rechtfertige ich mich: Ich lebe ja nicht mehr hier, ich habe gar keine Wohnung zu teilen. Vielleicht nächsten Monat, wenn ich wieder in San Francisco bin?

Eine Gruppe Jungs stürmt nun den Tramwagen, irgendeine der umliegenden Schulen macht wohl früher Mittagspause. Sie verteilen sich in den umliegenden Sitzen, greifen nach der Gratiszeitung und beginnen gleich zu japsen: «Boahhh, Alter, schau dir die mal an! Also die würde ich sofort bei mir aufnehmen ... hahahaaaaaa!»
«Nein, die nicht, die sieht nicht aus, als wüsste sie, wie man Spass hat.»

Spass hat? Spass am Krieg, Spass an der Flucht, Spass am Verlust? Das ist es natürlich nicht, was die Jungs meinen. Eine Weile geht es so weiter, ziemlich laut, die körperlichen Vorzüge der abgebildeten Frauen werden kommentiert und ihre Fähigkeit, «Spass zu haben», eingeschätzt.

Ich atme tief ein und aus. Schliesslich habe ich zwei Söhne grossgezogen. Ich weiss, dass es etwas länger dauert, bis die Synapsen im männlichen Hirn geschlossen sind, die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung hergestellt werden kann. Die jugendlichen Stimmen kieksen und überschlagen sich, hormongeplagte Kinder, denke ich und sage erst mal nichts. Doch dann wendet sich das Gespräch einem anderen weltbewegenden Thema zu, nämlich der Frage, wie man die Eltern dazu bringt, dass sie einem ein Cabriolet kaufen, «um morgens zum Bahnhof zu fahren».

«Was kostet das, 30'000?»

«Eher 45.»

Da ich mir nicht vorstellen kann, dass man in der Schweiz neuerdings mit 13 einen Fahrausweis kriegen kann, revidiere ich meine Einschätzung. Die stimmbrüchigen Bengel sind offenbar durchaus bereits im urteilsfähigen Alter. Innerlich schiebe ich schon mal die Jackenärmel hoch und setze zu einer Standpauke an. Doch da hält das Tram schon wieder, die Türen öffnen sich, die Bengel stürzen sich auf die Strasse hinaus, über Benzinpreise diskutierend. Und ob dieser doofe Krieg ihre Chancen, mit dem Cabriolet zum Bahnhof zu fahren, beeinträchtigen wird.

«Ihr seid die künftige Elite unseres Landes», pflegte der Rektor des Gymnasiums, das mich nicht lange behalten hat, zu sagen. Na, dann gute Nacht.

Und ich bin immer noch kein besserer Mensch. Als ich nach Hause komme, klage ich meiner Freundin mein Leid. Sie steht am Herd und brät Eglifilets knusprig an.

«Wir müssen jeden letzten Tropfen Glück aus diesem Leben quetschen», sagt sie. «Das sind wir ihm schuldig, dem Leben.»

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