Seit ich vor etwa acht oder neun Jahren auf Verlangen meines damaligen Verlegers einen dreitägigen Workshop besuchen musste, pflege ich eine Art Hassliebe mit den sozialen Medien. Ich erinnere mich noch an meine Verwirrung damals: Ja, wie jetzt? Sollen wir authentisch sein, was immer das heisst, oder provozieren um jeden Preis, egal, worum es geht? Ein vergrätzter Kollege brachte es mit seiner Frage auf den Punkt: «Und wann, bitte schön, sollen wir denn unsere Bücher schreiben?»
Irgendwann gab ich den Widerstand auf. Ich beschloss, die Herausforderung anzunehmen und diesen Plattformen eine Chance zu geben. Und siehe da, sie ermöglichen durchaus auch unerwartete, schöne Momente, die anders niemals möglich gewesen wären. Es entstehen Verbindungen in diesem seltsamen virtuellen Raum, die sich sehr real anfühlen und die auch tragen. Victor ist zum Beispiel überzeugt, dass ihn die geballte Unterstützung, die vielen guten Wünsche, die ihn auf diesem Weg erreichten, geholfen haben, seine letzten grossen Operationen zu überstehen. Die Wirksamkeit von Gebeten ist wissenschaftlich untersucht, und gute Wünsche sind schliesslich auch eine Art Gebet. Es war auch zu der Zeit, in der Victors Herzkrankheit immer bedrohlichere Ausmasse annahm, als mich über eines dieser sozialen Medien eine Nachricht erreichte: Wir kennen uns nicht, aber ich lese deine Bücher. Im Übrigen beschäftige ich mich seit 17 Jahren beruflich mit Vorhofflimmern und kenne jede Koryphäe auf dem Gebiet. Melde dich, wenn ich dir helfen kann.
Zufällig sassen wir gerade wieder im Wartezimmer der Kardiologieklinik, und zufällig glaube ich nicht an Zufälle. Also antwortete ich, nur kurz, ich würde gegebenenfalls darauf zurückkommen, vielen Dank.
Das tat ich dann auch. Nachdem der erste Eingriff endlich bewilligt worden war, gab ich ihr die Namen der beteiligten Chirurgen durch. Da seid ihr in guten Händen, schrieb sie zurück, und das beruhigte mich. Ich kannte sie nicht, aber ich vertraute ihr. Nicht blind: Ich hatte mich nach ihr erkundigt. Ja, es gab sie, und ja, sie kannte sich auf diesem Gebiet auch wirklich aus. Mehr als das, sie war bereit, ihr Wissen zu teilen. So, dass ich es auch verstand. Gerade die Tatsache, dass sie weder mich noch Victor persönlich kannte, machte es einfacher. Sie war emotional nicht verstrickt, sie fühlte mit, blieb aber sachlich. So wurde diese Unbekannte zu meinem Rettungsanker. Ich weiss nicht, wie oft ich ihr in diesen nervenzermürbenden Tagen und Nächten geschrieben habe. Nach jeder zweiminütigen Minimalvisite rapportierte ich, so gut ich konnte, was die Ärzte gesagt hatten. Bei jedem neuen Flackern von Victors Herzschlag rief ich sie um Hilfe. Um die Zeitverschiebung kümmerte ich mich nicht, aber sie antwortete immer sofort. Erklärte, was ich nicht verstand, beruhigte mich, wenn etwas schiefging, regte sich auch mal mit mir auf. Diese Hand, die sich aus dem virtuellen Raum nach mir ausstreckte, die mich festhielt und durch diese nervenzerreissenden Tage und Nächte führte, war real.
Ungefähr eineinhalb Jahre später klingelte ich in Zürich an ihrer Wohnungstür. Sie öffnete, die Champagnerflasche schon im Anschlag. Wir fielen uns in die Arme wie alte Freundinnen.