Seit Beginn der Pandemie gehe ich jeden Sonntagmorgen mit meiner Freundin Theresa spazieren. Es ist die einzige Gewohnheit aus dieser Zeit der Einschränkungen, die ich beibehalten habe. Andere, wie das Einmachen von Gemüse, das Stricken von wild gemusterten Pullovern oder das Backen immer neuer Wähenvariationen, habe ich irgendwann wieder aufgegeben. Nur den Sonntagsspaziergang nicht. Das wöchentliche Ritual ist längst Selbstzweck geworden, wir wollen nichts damit erreichen und nichts beweisen.
Das war nicht immer so. Anfangs setzten wir uns durchaus Ziele: So und so viele Schritte, Meilen oder Stunden, jede Woche einen anderen Weg, quer durch die Stadt und rund um die Bay. Wir luden uns Wander-Apps aufs Handy und warfen unsere elektronischen Schrittzähler an. Das hielt allerdings nicht lange an, denn zuverlässig verirrten wir uns jede Woche, oft bereits auf dem Weg zum geplanten Weg. Und dann merkten wir, dass wir wie durch ein Wunder immer genau am richtigen Ort landeten. Jeder Spaziergang bescherte uns eine Aussicht oder eine Einsicht, eine Erinnerung oder eine Erkenntnis – wenn auch nicht unbedingt einen sportlichen Rekord. Jede Woche sagten wir: «Genau das habe ich heute gebraucht.» Und so gaben wir das Planen bald ganz auf und liessen uns stattdessen von unserem Instinkt treiben. Auch wenn der manchmal Nein sagte. «Heute nicht.» Oder: «Es reicht.»
Zum Beispiel, als es so heftig regnete, als müsse die vierjährige Dürreperiode an einem einzigen Tag ausgeglichen werden. Da waren wir uns einig: Wir bleiben zu Hause. Andere Freunde hielten uns das später vor: Es gäbe doch kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. «Wenn du einen Hund hättest, müsstest du bei jedem Wetter raus!» Stimmt, und Regen soll ausserdem schön machen. Weiss ich alles, und kann ich auch: mich überwinden, meine Grenzen ignorieren, mich pushen. Früher habe ich das getan, ohne darüber nachzudenken, wenn auch nicht unbedingt in sportlicher Hinsicht. Aber wenn Jasagen eine olympische Disziplin wäre, hätte ich bestimmt die eine oder andere Medaille gewonnen. Es war mir nun mal ein Bedürfnis, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, egal ob sie diese auch geäussert hatten oder ob ich sie mir nur einbildete. Es brauchte dann auch ein paar Jahre oder Jahrzehnte, ein paar Krisen und Zusammenbrüche, bis mir klar wurde, dass ein gestresstes Nervenbündel niemandem guttun kann. Egal, wie gut die Absichten sind.
Es war nicht einfach, dieses schwerfällige Schiff, das mein Leben war, in eine neue Bahn zu lenken. Die Kursänderung ging fast unerträglich langsam vor sich, manchmal schien das Schiff mitten im Ozean stillzustehen. Doch als der neue Kurs einmal eingeschlagen war, gab es kein Umdrehen mehr. Heute gehe ich nicht mehr automatisch davon aus, dass ich ständig mehr machen, besser sein müsse. Stattdessen finde ich immer öfter, es sei genug. Ich sei genug. Ich plage mich nicht mehr, ich versuche etwas Neues: Ich bin nett zu mir.
«Lass uns umkehren», sagte ich deshalb letzte Woche zu meiner Freundin, als wir keuchend einen Hügel erklommen. «Ich mag nicht mehr.»
«Okay», sagte sie. Eine Weile standen wir noch da und schauten über die nebelverhangenen Baumspitzen auf die Bay hinunter, die in der Morgensonne glitzerte. Dann drehten wir uns um.
Es war genug. Wir waren genug.