«Die Tage zwischen den Tagen» nannte meine Mutter sie. Diese Tage, in denen eigentlich nicht viel passiert, nicht viel möglich ist und deshalb auch nicht viel sein muss. Eine gestohlene Zeit fast. Wie wenn man zu krank ist, um zur Schule zu gehen, aber nicht krank genug, um nicht mehr fernsehen zu können. (Das war das Kriterium, mit dem mein Sohn mich früher überzeugen konnte: «Ich bin wirklich krank, Mama! So krank, dass ich nicht mal mehr fernsehen kann.») Wie an einem endlosen Regensonntag, der alle Freiluftpläne wegschwemmt, der eigentlich nur eine Tätigkeit zulässt: lesen. Oder wie auf einem Langstreckenflug, an einem Ort verabschiedet, am anderen noch nicht angekommen, stundenlang nicht erreichbar. In einem luftleeren Raum, hoch oben in der Luft. Seltsam frei.
Eigentlich, so dachte ich schon als Kind, müsste das Jahr an Weihnachten enden. Mit Kerzen und Liedern und Geschenken, mit Schinken im Brotteig und sieben Sorten Guetzli, mit einem Höhepunkt. Später war es eher die Erschöpfung, die mich zum selben Schluss kommen liess. Das kommt vermutlich noch aus meiner Zeit «im Verkauf», genauer im Buchhandel. Der Dezember war der anstrengendste Monat im ganzen Jahr, der Druck nahm unerbittlich zu, die Kunden und Kundinnen wurden jeden Tag fordernder und genervter, Ladenschluss war Wunschdenken. Manchmal dachte ich, wenn ich noch einmal den Satz «Fräulein, ich hätte gern ein Buch» hörte, würde ein Unglück passieren. Jahre später war das dann auch der Titel einer Mordgeschichte. Aber das gehört nicht hierher.
Mein Freund, meine Mitbewohner, meine besten Freundinnen: Alle arbeiteten damals in Buchhandlungen, alle erlebten denselben Dezemberwahnsinn. Und so trafen wir uns jeweils am 24. Dezember nach Ladenschluss, lange nach Ladenschluss in einer Bar in der Zürcher Altstadt, die längst nicht mehr existiert. Tranken billigen Wein und forderten der Jukebox sentimentale Seemannslieder ab, zu müde um zu reden, zu müde, um aufzustehen. Von mir aus hätte das Jahr dann enden können, dachte ich damals schon. Doch dann kamen diese seltsamen Zwischentage, während derer man sich noch einmal aufrappelte, noch einmal einen Anlauf nahm, gerade genug Energie nachtankte für die nächsten Feiertage.
Es waren die besten Tage im ganzen Jahr. Nicht nur, weil sie je nachdem, wie sie in der Woche lagen, schon fast zu Kurzferien zusammenwachsen konnten. Geschäfte und Lokale blieben geschlossen, Freunde und Bekannte machten die Brücke, verreisten, ins Kino konnte man auch nicht. Es blieb einem nichts anderes übrig, als zu Hause herumzulümmeln, noch einmal «Der kleine Lord» zu schauen, den Berg ungelesener Bücher abzutragen oder auch einfach ins Leere zu starren. Oder zum Fenster hinaus, wo meist eine graue Landschaft in einen grauen Himmel überging.
Nichts zu tun.
Victor versteht das: «Ja, klar, das sind die leeren Tage.» Der aztekische Kalender hat offenbar am Ende des Jahres fünf Tage freigelassen. Fünf Tage, die nicht wie alle anderen einer Zahl, einem Tier, einem religiösen Ritual zugeordnet waren. Die leeren Tage wurden auch die verrückten genannt. Die Azteken konnten sich allerdings nicht wirklich entspannen, weil während dieser Tage nicht klar war, ob es eine «neue Sonne» geben würde, ein weiteres Jahr. Wir, die wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen können, dass es irgendwie weitergeht, wir nutzen diese Tage.
Zum Nichtstun.