Kolumne von Milena Moser
Weihnachten? Keine Ahnung!

So ist es dieses Jahr, und nicht nur für mich: Wenige Tage vor Weihnachten habe ich noch keine Ahnung, wie ich diese feiern werde. Pläne zerbrechen, Rituale werden beendet. Das ist traurig. Doch die Neugier ist stärker als die Wehmut.
Publiziert: 20.12.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2021 um 12:34 Uhr
Milena Moser vor Tom und Jerrys Weihnachtshaus – das dieses Jahr leider dunkel bleibt.
Foto: zvg
Milena Moser

«Hast du gehört, dass es Tom und Jerrys Weihnachtshaus nicht mehr gibt?» Meine Freundin Theresa ist den Tränen nahe. Und auch mir verschlägt es für einen Moment die Sprache.

«Oh, nein ...», murmle ich. «Nicht das auch noch!» Nicht noch eine lieb gewordene Tradition, die wir aufgeben müssen, nicht noch eine Veränderung, nicht noch ein Verlust!

Ich weiss nicht, warum mich diese Nachricht so erschüttert. Es ist ja nicht das Einzige, was dieses Jahr nicht wie geplant, wie erhofft verläuft. Wieder nicht. «Was machst du zu Weihnachten?», ist die grosse Frage der letzten Wochen. «Ich? Keine Ahnung ...»

Ganz ehrlich gesagt finde ich das eigentlich gar nicht so schlimm. Schliesslich vermisse ich meine Kinder, meine Liebsten in der Schweiz über Weihnachten nicht mehr als an allen anderen Tagen im Jahr. Und an verlässlichen Feiertagsritualen konnte ich noch nie festhalten, nicht einmal als Kind. Mein Leben ist und war immer schon in ständiger Bewegung, meine Umstände verändern sich fortwährend, ich verändere mich mit ihnen. Rituale sind unglaublich wertvoll, doch sie müssen mit Leben gefüllt sein. Sie können nicht künstlich weiterzelebriert werden, wenn sie innen hohl geworden sind. So habe ich über die Jahre auf viele verschiedene Arten gefeiert, an vielen verschiedenen Orten, mit vielen verschiedenen Menschen. Immer wieder anders, immer wieder neu. Jeder Verlust hat mich neu bereichert.

Als ich Victor kennenlernte, war ich etwas erstaunt über seine haltlose Begeisterung für alles weihnächtlich Glitzernde. Er war es auch, der mich zum ersten Mal zum Weihnachtshaus an der 21. Strasse führte, die so steil ist, dass einem fast schwindlig wird. Es sieht aus, als sei die Stadt aus dem Rahmen gekippt. Mit den psychedelisch blinkenden Dekorationen, den feierlustigen Menschenmassen und dem billigen Glühwein entsteht hier oben eine ganz eigene Feiertagseuphorie.

Tom und Jerry, die übrigens wirklich so hiessen, schmückten schon in den Achtzigerjahren die Tanne vor ihrem Haus so üppig, dass die Nachbarn stehen blieben. Jahr für Jahr wurden die Dekorationen kitschiger und gewagter, die Besucher zahlreicher. Und die Tanne vor dem Haus wuchs und wuchs. Nachbarn, Fachleute und freiwillige Helfer schlossen sich zu einem verschworenen Team zusammen, das immer atemberaubendere Dekorationen errichtete, die ganze Fassade mit Lichtern bestückte, ein Miniatur-Karussell und eine Modelleisenbahn installierte und das Herzstück der Ausstellung, die riesigen, aufblasbaren Weihnachtsstrümpfe, an der Hauswand montierte.

Wohlgemerkt, all diese Dekorationen sind billig und kitschig, wahllos zusammengewürfelt, es steckt kein Designkonzept dahinter, nur Leidenschaft und Nachbarschaftssinn. Für viele Kinder der Stadt ist der Besuch bei Tom und Jerry ein fester Bestandteil der Festtagsvorfreude. In den letzten beiden Dezemberwochen sind ständig Samichläuse im Einsatz, verteilen Glühwein und rot-weiss gestreifte Schleckstängel.

Tom ist letztes Jahr gestorben, doch es war sein Wunsch, dass die Tradition weitergeführt werde. Trotz Pandemie und geplatzten Plänen, und obwohl Jerry nirgends zu sehen war, standen wir also wie immer vor seinem unbeirrt leuchtenden Haus, tranken Glühwein und heisse Schokolade und versicherten uns gegenseitig, es werde alles wieder gut oder wenigstens besser.

Doch dieses Jahr bleibt das Weihnachtshaus dunkel.

Etwas anderes wird aufleuchten.

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