Milena Moser
Nett sein ist unterbewertet

Letzte Woche war Welttag der Nettigkeit. Eine Eigenschaft, die meiner Meinung nach zu wenig gewürdigt wird. Schon das Wort klingt im Deutschen eher abwertend. Dabei ist es nicht nur nett, nett zu sein, es macht auch glücklich(er).
Publiziert: 22.11.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2021 um 11:50 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
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Milena MoserSchriftstellerin

«Sie sind ja eigentlich ganz nett!» Das höre ich ziemlich oft und immer mit einem leichten Unterton des Erstaunens. Vielleicht, weil ich in meiner Jugend Mordgeschichten geschrieben habe? Oder weil Schriftstellerinnen generell für menschenscheue und lärmempfindliche Kreaturen gehalten werden? Egal. Es ist das beste Kompliment, das man mir machen kann. Denn es ist tatsächlich mein grösster Ehrgeiz, ein netter Mensch zu sein. Ich finde nett sein wichtiger als fast alles andere. Nett zu sein, ist eine Entscheidung, eine tägliche Herausforderung und nur eine scheinbare Nebensächlichkeit. Nettigkeit, oder Freundlichkeit, können die Welt vielleicht nicht retten, aber wenigstens zu einem erträglicheren Ort machen.

Diese alltägliche Freundlichkeit ist etwas, das ich in Amerika kennengelernt habe. Es vergeht kein Tag hier, an dem mir nicht etwas Nettes gesagt wird. Von Wildfremden, die ich vermutlich nie wiedersehen werde. «Ja, aber das ist doch total oberflächlich», nörgeln meine Schweizer Freunde. Ja, klar. Interaktionen mit Fremden sind immer oberflächlich. Das liegt in ihrer Natur – und gilt für Grantigkeit und Freundlichkeit im selben Masse. Doch für das Lebensgefühl macht es einen enormen Unterschied, ob man ein bisschen Freundlichkeit erfährt oder ob man angeschnauzt wird. Als ich zum ersten Mal hierherzog, zuckte ich immer instinktiv zusammen, wenn mich jemand ansprach. «Sorry», sagte ich schon mal prophylaktisch. «Sorry, sorry, sorry!» So sicher war ich, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Denn warum sollte sich ein Fremder an mich wenden, wenn nicht, um mich zurechtzuweisen? Es dauerte eine Weile, bis ich die Freundlichkeit hören konnte. «Tolle Schuhe tragen Sie. Ich mag Ihr Outfit. Sind Ihre Haare von Natur aus so lockig?»

Als ich mit meinem damals drei Jahre alten Sohn zum ersten Mal zu seiner neuen Spielgruppe fuhr, schluchzte er aus voller Kehle. Nicht aus Trennungsangst, sondern weil die funkelnagelneue Lunchbox, die er für diesen speziellen Tag bekommen hatte, auf dem Weg zur Bushaltestelle im Regen nass geworden war. Der Bus war überfüllt, Menschen fuhren zur Arbeit, in die Schule. Ich versuchte mein Kind zu trösten, während ich mich gleichzeitig nervös umschaute. Jeden Moment würde sich jemand einmischen: Ob ich mein Kind nicht besser erziehen könne und warum ich ausgerechnet jetzt, während der Stosszeit, Bus fahren müsse. So war ich das gewohnt. Und schon kam ein geschniegelter junger Mann im Anzug auf uns zu. Er fischte ein sauberes Taschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es meinem Sohn. «Dann lass uns mal deine Lunchbox putzen», sagte er. Mein Sohn beruhigte sich sofort, dafür war ich jetzt nahe daran, loszuheulen. Vor Dankbarkeit und Erleichterung.

Freundlichkeit ist eine bewusste Haltung. Sie verlangt, dass man aus seinem eigenen Befinden heraustritt und die anderen wahrnimmt. Das weinende Kind, den unsicher die Strasse überquerenden Mann mit dem Stock, die junge Frau mit den tollen Pfauenfederohrringen, die Barista mit den müden Augen.

Freundlichkeit verlangt, dass wir aufmerksam bleiben, dass wir uns Zeit nehmen, mit anderen Menschen in Verbindung treten. Freundlichkeit erinnert uns daran, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind. Nicht allein. Also kurz, genau das, was uns spirituelle Lehrer, Lifestylegurus und Kühlschrankmagnete seit Jahren ans Herz legen.

Nett sein macht glücklich. Ganz einfach.


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