Milena Moser: Dia de Muertos – Tag der Toten in Mexiko
Alle Toten sind willkommen

Die dunkle Jahreszeit beginnt fröhlich, laut und bunt. Am Sonntag klingeln die verkleideten Kinder an der Tür und fordern Süssigkeiten, am Dienstag kommen dann unsere Muertitos, unsere geliebten Verstorbenen, zu Besuch.
Publiziert: 01.11.2021 um 08:54 Uhr
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Aktualisiert: 04.11.2021 um 15:07 Uhr
In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November gedenken die Mexikaner der Toten. Mit dem Dia de Muertos. Sie verkleiden sich, veranstalten Umzüge.
Foto: imago images/ZUMA Wire
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Milena MoserSchriftstellerin

Die Vorbereitungen beginnen ungefähr eine Woche vor dem Tag der Toten. Wir kaufen Kübel voller leuchtender, stark duftender mexikanischer Ringelblumen. Victor schneidet bunte Scherenschnitte aus Seidenpapier, besorgt Masa für die Tamales und süsse Totenbrötchen in einem Vorort, wo sie offenbar besser sind als in der Stadt. Wir hängen Laternen ins Fenster, die den Toten zeigen: Hier seid ihr willkommen. Man muss ihnen nämlich schon ein bisschen was bieten, wenn sie das Paradies verlassen und den Tag mit uns verbringen sollen!

In der indigenen mexikanischen Tradition ist das Jenseits ein Ort der Glückseligkeit, der allen offen steht, egal wie ihr irdisches Leben verlaufen ist. Ein Ort, der sich den individuellen Wünschen anpasst und in dem es auch durchaus weltlich zugeht. In Victors Vorstellung zum Beispiel ist dieser Ort von schönen Frauen bevölkert, der Mescal tropft von den Bäumen, und die Musik verstummt nie. In dieser Kultur haben die Toten das allerschönste Leben, und deshalb werden sie wohl inniglich vermisst, aber nicht bedauert; man trauert heftig um sie, aber man leidet nicht.

Anfangs war mir das recht fremd. Trauern, ohne zu leiden? Wie soll denn das gehen?

«Der Tod ist nun mal eine Tatsache», erklärte mir Victor. «Wir können ihm nicht entkommen. Aber da niemand mit absoluter Gewissheit sagen kann, was einen danach erwartet, kann man doch auch einfach das Beste annehmen.»

Das Beste annehmen ...? Diese Vorstellung verschlug mir die Sprache. Sie stellte alles in Frage und auf den Kopf.

«Ja, aber ... aber ... aber ...» Victor wartete geduldig, während ich nach Luft schnappte und versuchte, etwas zu entgegnen. Vernünftige Argumente fielen mir keine ein. Doch alles in mir sträubte sich dagegen. Man kann doch nicht einfach ... darf man das? Geht das?

Es geht. Mit der Zeit entspannte ich mich. Victors Lebenslust ist auch unter widrigen Umständen ansteckend. Und sie beruht weitgehend auf dieser Haltung: Warum nicht das Beste annehmen? Mit der Angst vor dem Tod lösen sich auch andere Ängste auf, als seien sie alle mit dieser einen verbunden. «Und wenn sich nach dem Tod herausstellt, dass wir uns getäuscht haben, dann hatten wir wenigstens ein schönes Leben», meint Victor und lacht.

Ich entferne die Scherenschnitte, die ich letztes Jahr für meine Mutter geschnitten habe, von unserem Hausaltar. Es war das erste Mal, dass ich die Seidenpapiere aussuchte, in den gedämpften, kühlen Blau- und Grüntönen, die sie liebte, das erste Mal, dass ich unter Victors geduldiger Anleitung die Muster schnitt und übereinanderklebte. Es war das erste Mal, dass ich die traditionellen Speisen auf dem Altar mit Lachsbrötchen ergänzte, Champagner einschenkte statt Tequila, dass ich dieses einst so fremde Ritual zu meinem eigenen machte. Ich spürte die Anwesenheit meiner Mutter sehr deutlich an diesem Tag, ihre Rührung, ihre Skepsis, ihre leise Kritik. So wie sie eben war. Sie war da. Ich war getröstet.

Ich habe gelernt, mit dem Tod zu leben, ihn zu akzeptieren. Wenn Victor vor mir stirbt, werde ich wahnsinnig traurig sein. Traurig, aber nicht verzweifelt und nicht ohne Trost. Weil ich mir Victor in seinem knallbunten persönlichen Paradies vorstellen kann, umgeben von schönen Frauen, die er alle zum Lachen bringt. Weil ich das Beste annehme.

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