Milena Moser: Was tun, wenn das Leben nicht nach Plan verläuft?
Die Kunst des Aushaltens

Es regnet. Wir sitzen im Stau fest. Die Strassenkarte zeigt rote Unfallwarnungen hier und dort und da auch. Wir weichen auf die alte Küstenstrasse aus, die Fahrt zieht sich in die Länge. Und dann bekommen wir Hunger.
Publiziert: 09.11.2021 um 11:08 Uhr
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Das Leben läuft nicht immer nach Plan.
Foto: imago images/SNA
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Milena MoserSchriftstellerin

Mitten im grauen Nirgendwo blinkt ein altmodisches Neonschild auf. Wir halten an, steigen aus, rennen geduckt zum Eingang. Das Lokal ist zum Platzen voll. Es riecht nach Regen und Bier und nach gebratenen Zwiebeln. Wir schauen uns um, etwas verunsichert. Nur schnell ein Sandwich, denken wir, zum Mitnehmen. Doch dann bleiben wir hängen. Vielleicht ist es die umständliche Art des Besitzers, wie er die beschlagene Brille mit dem Finger hochschiebt und uns freundlich anschaut, als fragte er sich, wo wir denn so dringend hin wollen. Bei diesem Wetter. Etwas löst sich in uns, wir geben nach.

Er führt uns zu einem Vierertisch am Fenster, an dem schon ein jüngeres Paar sitzt. Der Regen prasselt gegen die Scheiben, das Grau der Strasse löst sich im Grau des Himmels auf. Wir sind wieder einmal «trotzdem» losgefahren, in einem Moment, in dem es vernünftiger gewesen wäre, zu Hause zu bleiben. Ich gebe zu, ich hatte kurz daran gedacht, den Ausflug an die Küste abzusagen. Können wir uns unter diesen Umständen überhaupt entspannen? Können wir es geniessen? Dann erinnerte ich mich an den Nachmittag nach einer Untersuchung im Unispital. Statt die Ergebnisse abzuwarten, fuhren wir einfach los, nicht weit damals, eine knappe Stunde die Küste hoch nach Tomales Bay, wo wir ein unvergessliches Festmahl aus Pasta und frischen Meeresfrüchten genossen und zum sanften Rauschen der Wellen einschliefen. Am nächsten Morgen kam dann der gefürchtete Anruf aus der Klinik. Die Fahrt zurück in die Stadt war zugegebenermassen nicht sehr entspannt. Trotzdem, diesen Abend und diese Nacht, diese Aussicht und diesen Sonnenuntergang konnte uns niemand mehr nehmen. (Und der Alarm stellte sich nach einem weiteren vermeidbaren Eingriff auch als falscher heraus.)

Diesmal sind es behördliche und nicht gesundheitliche Bedrohungen, die über uns schweben. Tun können wir im Moment nichts, warum also nicht ein paar Tage die Küste runterfahren? Im Regen, wenn es sein muss. Ideale Umstände gibt es nicht, das habe ich gelernt. Wahre Lebenskunst, das habe ich von Victor gelernt, ist die Fähigkeit, es auszuhalten, wenn das Leben nicht nach Plan verläuft. Wenn eine dunkle Wolke über einem hängt. Wenn man nicht weiss, ob und wie es weitergeht.

Während wir auf unsere Sandwiches warten, wundere ich mich laut, warum das etwas heruntergekommene und abgelegene Lokal so voll ist. «Oh Honey», sagt die junge Frau mit den kunstvoll geflochtenen Haaren neben uns. «Das ist doch hier unsere Verpflegungszentrale!» Als ich nicht gleich verstehe, deutet sie aus dem Fenster, auf den Parkplatz auf der anderen Seite der Strasse. Jetzt erst sehe ich das handgemalte Schild: «Reserviert für Waldbrand-Vertriebene.» Sie nickt. «Seit August ist das unser Zuhause.» Ihr kleines Häuschen ist einem der über siebzig Brände zum Opfer gefallen, die im Spätsommer durch Blitzeinschläge in der ausgetrockneten Region entstanden sind. Seither lebt sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Hunden im Auto, auf dem Parkplatz. Sie warten auf den Bescheid der Versicherung, die relevanten Unterlagen sind mit verbrannt. «Jack hier verpflegt uns zum Selbstkostenpreis. Er ist unser Engel.» Sie drückt dem etwas schusseligen, grauhaarigen Mann, der jetzt unsere Sandwiches bringt, die Hand. Dann fragt sie uns, was wir hier machen.

«Wir sind auf unserer Hochzeitsreise», sagte ich. Und das ist nicht mal ganz gelogen.

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