Milena Moser
Zwischen Texas und Afghanistan

Früher glaubte ich, die Gesellschaft entwickle sich in eine Richtung. Vorwärts, aufwärts. Fortschritt sei ein linearer Prozess, glaubte ich – nicht rückgängig zu machen. Das Leben lehrte mich: Es ist eher ein Foxtrott. Einen Schritt vor und zwei zurück.
Publiziert: 25.10.2021 um 08:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2021 um 15:31 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben – dieses Mal über das neue Abtreibungsgesetz in Texas.
Foto: imago images
Milena Moser

Missys Yogastunden waren oft chaotisch. Trotzdem besuchte ich sie gern. Wegen Missys verspielter Kleidung, den Glitzersternchen, die sie sich ins Gesicht klebte, wegen ihrem weichen Südstaatenakzent, weil sie uns «my loves» und «y'all» nannte und jedem Vornamen ein «Miss» voranstellte, egal, wie alt wir waren. «Streck mal die Beine durch, Miss Milena!» Ich fragte mich, ob ich sie umgekehrt «Miss Missy» nennen sollte, aber das schien mir dann doch etwas übertrieben.

Als das Yogastudio während des Lockdowns geschlossen wurde, hielt Missy sich eine Zeit lang noch mit Online-Lektionen über Wasser. Sie schickte uns lange Gruppenmails, die genauso chaotisch und liebevoll waren wie ihre Stunden, voller Feen- und Einhorn-Emojis. Doch bald konnte sie sich die teure Miete nicht mehr leisten und zog nach Hause zurück, nach Austin, Texas. Die Musikhochburg gilt als liberale Enklave in einem der konservativsten Staaten der Vereinigten Staaten. Doch das nützte der Stadt in den letzten Monaten wenig.

In ihren Online-Yoga-Lektionen erzählte Missy statt von universeller Liebe immer öfter von den Missständen in ihrer neuen alten Heimat. Und irgendwann hörte sie ganz auf zu unterrichten und schloss sich einer politischen Organisation an. Ihre Gruppenmails wurden häufiger, und obwohl sie immer noch mit «Blessings, My Loves» begannen, klangen sie nicht mehr verspielt, sondern zunehmend verzweifelt.

Missys Organisation versuchte zuerst, das repressive neue Abtreibungsgesetz zu verhindern und anschliessend betroffenen Frauen in Not zu helfen, nachdem dieses durchgesetzt worden war. Damit macht sie sich nicht nur strafbar, sie setzt sich auch dem Angriff durch anonyme Anzeigen aus, die vom Staat mit 10'000 Dollar belohnt werden.

«Ich führe den Kampf fort, den meine Mutter und meine Tante bereits gewonnen glaubten», schreibt sie. Die Feenprinzessin hat sich in eine Aktivistin verwandelt.

Mittelalterlich. Ausgeliefert. Bedroht. Lebensgefahr. Dieselben Worte, ähnliche Formulierungen, einen ähnlich verzweifelten Ton lese ich in den Hilfsaufrufen der Organisationen, die sich mit der Lage der Frauen in Afghanistan befassen. Obwohl mir klar ist, dass man diese beiden Situationen nicht miteinander vergleichen kann, erschüttern mich die beinahe wörtlich übereinstimmenden Formulierungen.

Und ich erinnere mich einmal mehr an einen lange zurückliegenden Lunch mit ägyptischen Schriftstellerinnen und Journalistinnen in Kairo. Damals hatte man mich in der Schweiz wegen dieser Reise angegriffen, ich könne doch kein Land besuchen, in dem die Rechte der Frauen so missachtet wurden. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, wandte sich eine elegante, etwas ältere Journalistin mir zu. «Ach, aus der Schweiz sind Sie, wie nett», sagte sie etwas gönnerhaft. «Wir hatten ja damals an der Uni ein Unterstützungskomitee für die armen Frauen dort, die noch nicht mal das Stimmrecht hatten ...»

Da begriff ich es zum ersten Mal. Nichts ist sicher. Fortschritt ist kein Sofa, auf dem wir uns bequem zurücklehnen kann. Fortschritt ist vielmehr eine wacklige Schaukel, behelfsmässig zurechtgezimmert, sie schwingt vor, sie schwingt zurück und kann auch jederzeit ganz auseinanderfallen. In Zürich oder in Kairo, in Texas oder Afghanistan.

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