Plötzlich alleine
Bis dass der Tod euch …

Letzte Woche holte mich meine Kolumne ein. Nachdem ich gerade so klar beschrieben hatte, wie man mit Kranken und ihren Angehörigen umgeht, wurde ich selber wieder in die Pflicht gerufen. Und lernte, wie immer, dazu.
Publiziert: 20.09.2021 um 09:01 Uhr
Milena Moser ist über die Erkenntnis, dass einer von beiden zuerst sterben würde, erschüttert.
Foto: Getty Images
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Milena MoserSchriftstellerin

Violet erholte sich ganz gut von ihrer Hüftoperation, als ihr Mann David ins Krankenhaus musste. Eine komplizierte und nicht ungefährliche Operation an der Kehle, die den Einsatz dreier Spezialisten erforderte. Violet konnte sich noch nicht ohne die Hilfe eines Rollators fortbewegen, und sie wohnt eine gute Fahrstunde ausserhalb der Stadt. Also zog ich vorübergehend zu ihr, um ihr so gut wie möglich im Alltag zu helfen, für sie zu kochen, sie abzulenken und sie vor allem täglich ins Krankenhaus und wieder zurück zu fahren.

Violet und David sind seit über 50 Jahren verheiratet. Sie arbeiten zusammen, reisen zusammen, haben gemeinsam ihre Kinder grossgezogen, Vorträge gehalten, abenteuerliche Studienreisen unternommen. Sie sind eines dieser Paare, die ständig in Berührung bleiben. Weder Alter noch Krankheit ändern das. Jeden Tag macht sie sich schön für ihn. Und er fragt jeden Tag bei mir nach: Ob sie gegessen, ob sie geschlafen habe, will er wissen.

Kaum sind wir abends zu Hause, ruft sie ihn schon wieder an. Ich höre sie am Telefon kichern und tuscheln wie Frischverliebte. Als Violet operiert wurde, hielt David es im Wartezimmer nicht aus. Ziellos fuhr er durch die noch schlafende, verlassene Stadt. «Ich spürte, wie die Strassen von San Francisco meine Violet festhielten und beschützten», schrieb er seinen Freunden. Mir kamen die Tränen, als ich seine Nachricht las. Etwas Romantischeres hatte ich selten gelesen. Davids eigene Operation zog Komplikationen nach sich, er musste ein zweites, ein drittes Mal unters Messer. Jeder Tag war eine Achterbahn der Gefühle, Angst, Erleichterung, Panik, Verzweiflung, Wut, Dankbarkeit. Und wieder von vorn.

Und irgendwann in diesen sorgenvollen, angespannten Wochen zwang mich die Erkenntnis in die Knie: Einer von beiden würde zuerst sterben. Und den anderen allein zurücklassen.

Ich weiss nicht, warum mich diese einfache Tatsache so erschütterte. Vielleicht hat das Leben mit Victor, dessen Gesundheitszustand von Anfang an prekär war, meine Wahrnehmung getrübt. Vielleicht haben die Erfahrungen in meinem Freundeskreis, in meiner Familie die Vorstellung zementiert, es sei die Ausnahme, dass einer zuerst stirbt. Die unerwartete, ungeheuerliche Katastrophe. Die anderen, die glücklichen Paare, die zusammen alt werden durften, sah ich als die Verschonten. Dabei trifft es sie vielleicht am härtesten. Ist es grausamer, nach einem langen, glücklichen Leben auseinandergerissen zu werden als nach einem kurzen? Ist es schmerzlicher zu gehen, als zurückzubleiben? Ich versuchte abzuwägen, wer besser allein zurechtkäme. David war praktischer veranlagt, aber Violet konnte besser um Hilfe bitten ... Nein, sie wären beide verloren! Verzweifelt dachte ich mir Todesarten aus, die sie beide gleichzeitig treffen könnten: Flugzeugabsturz, Autounfall, Erdbeben. Ich überlegte hin und her, als könnte ich mit meinen Gedanken die Realität beeinflussen. Schliesslich rief ich Victor an: «Ich will nicht, dass einer von ihnen zuerst stirbt», weinte ich. «Sie lieben sich doch so!» Er schwieg eine Weile, vermutlich wunderte er sich ein wenig. Immerhin haben wir zusammen ein Buch über den Tod geschrieben. Immerhin reden wir offen darüber, dass er ziemlich sicher vor mir sterben wird. Ich dachte, ich hätte mich mit dem Tod versöhnt. Was kann ich sagen. Ich muss noch sehr viel lernen.

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