Maguy ruft an. Ihre Freundin hat Krebs, in einem fortgeschrittenen Stadium, mit einer schlechten Prognose. Maguy weint. «Ich möchte ihr helfen. Ich möchte für sie da sein. Aber ich weiss nicht, wie.» Dann fasst sie sich ein wenig: «Ich recherchiere auf jeden Fall schon mal alternative Behandlungsmethoden und die neusten medizinische Studien im Netz ...»
«Nein», unterbreche ich sie. «Auf keinen Fall! Tu das nicht!» Noch mehr zusätzliche Information ist ungefähr das Letzte, was Patienten und Angehörige brauchen. Nicht nur sind die zahlreichen und widersprüchlichen Hinweise eine Überforderung, sie sind auch ein unausgesprochener, wenn auch bestimmt unbeabsichtigter Vorwurf.
«Aber was soll ich denn sagen», jammert Maguy. «Ich will doch das Richtige sagen!»
Und ich verstehe sie. Die Angst, nicht das Richtige sagen zu können, hat mich früher auch oft davon abgehalten, überhaupt etwas zu sagen. Dabei ist es ganz einfach: Es gibt in solchen Momenten nichts Richtiges zu sagen. Nichts, was die Situation einfacher machen könnte. Am Telefon mit Maguy verstehe ich plötzlich, was ich in der Hitze des Gefechts, also in den Phasen, in denen es Victor schlecht geht, nicht richtig fassen kann. Jetzt, wo sein Zustand vergleichsweise stabil ist (Holz anfassen), habe ich die nötige Distanz, um zu unterscheiden, was hilfreich ist – und was nicht.
Zum Beispiel das gut gemeinte Versprechen: «Ich bin für dich da. Melde dich einfach, wenn du was brauchst. Was immer es ist.» Das ganze Denken kreist nur um eines: ums Überleben. Das eigene, oder das des geliebten Menschen. Für mehr reicht es schlicht nicht. Wenn ich nach einem langen Tag im Krankenhaus nach Hause fuhr, sass ich oft noch eine halbe Stunde reglos im Auto. Die fünf Schritte bis zur Haustür schienen unüberwindlich. Ich war erschöpft, vermutlich auch hungrig, aber ich konnte mich einfach nicht aufraffen, auszusteigen. Geschweige denn, mich an die mindestens fünf Angebote zu erinnern, mich zu melden, wenn ich etwas brauche.
Doch manchmal sah ich dann eine Papiertüte vor der Haustüre liegen und wusste, dass ein Sandwich auf mich wartete, oder ein Stück Lasagne. Und ich brach vor Dankbarkeit in Tränen aus. Die hilfreichsten Gesten kommen ohne grosse Worte aus, lernte ich. Und vor allem: ohne Fragen.
Und interessanterweise kamen sie oft von unerwarteter Seite. Es sind nicht immer die, die uns am nächsten stehen, die am besten helfen können. Sie sind zu nahe dran, sie leiden zu sehr mit. Oft sind es die, an die man gar nicht gedacht hat. Die aber vielleicht einmal etwas Ähnliches erlebt haben. Die wissen, wie es sich anfühlt, gegen das Versinken in diesem Treibsand der Sorge und Verzweiflung anzukämpfen. Sie sind es, die unangemeldet im Krankenhaus auftauchen, auch auf die Gefahr hin, dass sie den Patienten gar nicht zu sehen bekommen. Dafür bringen sie Kaffee und Kuchen für die Pflegenden mit. Sie wissen, dass die Pflege zu Hause zermürbender ist als die akute Krise im Krankenhaus. Und dass Genesung kein gradliniger Prozess ist.
Sie fragen nicht ständig, wie es geht. Sie kommen vorbei und helfen, die Bettwäsche zu wechseln. Sie kochen eine Mahlzeit, ohne zehnmal zu fragen, ob wir viel Knoblauch mögen, wo das kaltgepresste Olivenöl stehe und welche Pfanne sie benutzen sollen. Stattdessen waschen sie auch gleich wieder ab. Sie erwarten keine tiefschürfenden Gespräche, keine sofortige Anerkennung. Sie sagen nicht, sie seien für uns da: Sie sind es.
«Das ist alles, Maguy: Das Richtige kann man nicht sagen. Man kann es nur tun.»