Ich hatte mich nie für eine typische Schweizerin gehalten, was immer das heisst. Schon gar nicht hatte ich mir auf meinen roten Pass etwas eingebildet. Doch dann wanderte ich aus, zum ersten Mal mit Mitte dreissig. Und plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich jedes Klischee erfüllte. Ich schaute mit hochgezogenen Brauen auf die Uhr, wenn eine Freundin eine halbe Stunde später als verabredet erschien. Meine Rechnungen bezahlte ich mit beinahe zwanghafter Promptheit und jeden Samstag stellte ich die Stühle mit den Beinen nach oben auf den Küchentisch, um den Boden feucht aufzunehmen. Ein Verhalten, das meine amerikanischen Freundinnen mit Verwunderung beobachteten. Anfangs versuchte ich auch ständig zu erklären, wie man in der Schweiz lebte, nämlich ganz anders. «Bei uns in der Schweiz ...» begann ich jeden zweiten Satz. Bis ich merkte, dass das gar niemanden interessiert hier. Jeder kommt von irgendwoher, doch jetzt sind wir hier.
«Na, schlecht assimiliert, Mama?», necken mich meine Söhne, wenn ich den 1. August im kalifornischen Sommernebel mit Chäschüechli und Speckzopf begehe. Und ich lache mit. Tatsächlich werde ich immer schweizerischer, oder zumindest schweizbewusster, je länger ich nicht mehr in der Schweiz lebe. Was mich hingegen weniger amüsiert, ist die Tatsache, dass mich hier in der Fremde manchmal äusserst chauvinistische Gedanken durchzucken. Vor allem im Umgang mit Ämtern und Behörden, wo ich, wie alle Ausländer, vor allem schikaniert werde. Und dann bäumt sich etwas in mir auf, das ich bisher nicht an mir kannte: «Was meint ihr eigentlich», denke ich. «So könnt ihr mich doch nicht behandeln! Ich bin schliesslich AUS DER SCHWEIZ!» Als sei ich etwas Besseres. Als sei mir deshalb eine bevorzugte Behandlung geschuldet.
Mein Mann lacht mich manchmal aus, wenn ich so reagiere. «Willkommen in meiner Realität», sagt er trocken und macht mir peinlich bewusst, dass ich im Gegensatz zu ihm eine solche Behandlung nicht erwarte und auch nur schwer hinnehmen kann. Die Schweiz sitzt tiefer, als ich dachte. Wie sehr sie mich geprägt hat, merke ich erst jetzt.
Plötzlich erinnere ich mich, wie ich als Kind zum ersten Mal bei der Nachbarsfamilie zu Mittag ass. Bis dahin hatte ich automatisch angenommen, dass alle Familien gleich funktionierten, alle Kinder gleich aufwuchsen, dass es eine Art gab, zu leben: Die, die ich kannte. Und dann stellte ich plötzlich fest, dass nicht alle Väter zu Hause arbeiteten, nicht alle Mütter auf Französisch fluchten oder den Salat mit Rotweinessig anmachten. Manche Familien assen in der Küche zu Mittag, andere im Esszimmer. Es gab Käse und Brot oder Schweinebraten oder Resten. Bei manchen wurde vor dem Essen gebetet, bei anderen musste man mucksmäuschenstill sein, während im Radio die Nachrichten liefen. Es gab viele Arten, zu leben.
Unweigerlich begann ich, über meine eigene Familie nachzudenken. Warum arbeitete mein Vater zu Hause? Warum ass meine Mutter im Stehen? So wie ich jetzt unweigerlich mehr über die Schweiz nachdenke als früher. Es ist, als ob ich sie aus der Distanz klarer sehen könnte. Weit weg von allem Vertrauten kommt man sich näher. In der Ferne lernt man sich kennen.