Vor Jahren, als wir noch als Familie in San Francisco lebten und jeweils die langen amerikanischen Sommerferien in der Schweiz verbrachten, brach es aus meinem älteren Sohn heraus. «Ich hasse das!», schleuderte mir der damalige Teenager entgegen. Er hatte sich kaum von seinen Kollegen losreissen können, die er am Ende der vierten Klasse verlassen hatte, die er aber jeden Sommer sah – und mit denen er zum Teil heute noch befreundet ist, fast zwanzig Jahre später. Er war zu spät nach Hause gekommen, hatte die ohnehin emotionale Fahrt zum Flughafen verzögert und war von mir gerügt worden. Dabei war doch alles meine Schuld. «Ich hasse es, dass du mit uns ausgewandert bist!», rief er. «Ich hasse es, zwei Zuhause zu haben. Egal wo ich bin, ich vermisse immer jemanden!»
Ich hoffe, ich habe ihm damals eine Umarmung aufgezwungen. Denn ich weiss genau, was er meinte, ich wusste es auch damals schon. An mehreren Orten zu Hause zu sein, hat seinen Preis. Es ist aber auch ein Privileg. Das verstand er erst später.
Während der letzten Tage dachte ich oft an diese Szene und seufzte. Denn die letzten Tage vor jeder Abreise, hier wie dort, bestehen vor allem aus Neinsagen: «Nein, ich kann dich nicht noch einmal sehen. Nein, wir gehen nicht noch mal essen. Nein, ich habe keine Zeit mehr. Nein, nein, nein.» Mit jedem Nein enttäuscht man jemanden, den man gern hat. Jedes Nein ist ein Stich ins Herz.
Ich werde oft darauf angesprochen, dass es wahnsinnig mutig sei, in meinem Alter noch mal auszuwandern. Meinen Lebensmittelpunkt zu verschieben oder eher aufzusplittern. Aber ich bin nicht mutig. Ich bin nach jahrelangem und nicht immer freiwilligem Training einfach recht gut darin, Dinge auszuhalten. Situationen. Gefühle. Die Ameisenstrasse der Vorfreude, die in meiner Brust kribbelt, ebenso wie das bleischwere Gewicht des Abschieds in meinem Hals.
Ich sitze am Gate und atme tief ein. Und wieder aus. Ich erinnere mich daran, dass diese extremen Momente selten sind. Sie beschränken sich, wie schon bei meinem Sohn damals, auf die Tage vor der Abreise. An den meisten anderen Tagen ist es ein Privileg, Menschen auf zwei Kontinenten so tief verbunden zu sein. Den Geruch von frisch geschnittenem Gras genauso heimelig zu finden wie den der Eukalyptuswälder. Ins kalte, wilde Meer zu springen und im spiegelglatten See zu schwimmen. Alte Freundschaften zu schätzen und trotzdem neue zu bilden. Zu merken, dass man auch ganz anders leben kann, dass man nicht in Stein gemeisselt ist, dass man sich verändern und ständig dazulernen kann.
Ich telefoniere mit Victor, der mir strahlend erzählt, was er schon alles für mein traditionelles Willkommens-Festmahl vorgekocht hat, welche Blumen im Garten blühen und dass sich die Katzen seit ein paar Tagen aussergewöhnlich gut benehmen. «Sie spüren, dass du auf dem Heimweg bist.»
Das Zuhause kann ein Ort sein, oder viele. Ein Gefühl, eine Erinnerung, ein Mensch. Das Zuhause kann überall sein, oder vielleicht auch nur genau hier. Zu Hause ist man dort, wo das Herz ist, heisst es. Oder vielleicht ist das Zuhause in meinem Herzen?