Ich stand vor der Bäckerei, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Es war Sonntag, und die Sonne schien. Endlich. Ich stand in einer Menschenschlange, die sich rund um den Vorplatz und dann ziemlich weit die Strasse hinunterzog. Wir hatten offenbar alle beim Aufwachen dieselbe Idee gehabt. Oder, wie es ein Mit-Wartender etwas gehässig ausdrückte, wir waren «dem Holzofen-Hype aufgesessen». Sich selbst schien er von diesem Urteil auszuschliessen, mit welcher Logik, das war mir nicht ganz klar. Wir sind nicht einzigartig in unseren Wünschen und Bedürfnissen. Ist das so schlimm? Man könnte es doch auch als tröstlich empfinden. Geteilte Träume sind machtvolle Träume, nicht? Doch jeder, der neu zu uns stiess, machte erst einmal lautstark seiner Empörung Luft. «Das glaub ich ja gar nicht! Das ist ja bescheuert!» Und doch reihten sie sich alle im korrekten Abstand ein. Der Duft nach frischen Gipfeli hing in der Luft, und wie gesagt: Die Sonne schien.
Und es befanden sich auch genügend kleine Kinder unter den Wartenden, um die Stimmung aufzuhellen. Ein Mädchen in einem viel zu warmen, goldfarbenen Skianzug und rosa Sandalen versuchte, zu einem Jungen auf sein Tretauto zu klettern, der wiederum ein knallrotes Tütü über gestreiften Latzhosen trug. Man sollte kleinen Kindern unbedingt immer erlauben, ihre Garderobe selbst zusammenzustellen. Nicht nur wegen ihres Autonomieempfindens, sondern auch wegen der Laune der Umstehenden. Selbst die Beleidigsten unter den Wartenden mussten unwillkürlich lächeln.
Dann zog eine kleine Wolke über den Himmel. Einen Moment lang sorgte mich kurz, ob die Gipfeli wohl ausgehen würden, bevor ich die Verkaufstheke erreichte. «Du bist in der Schweiz, Moser», beruhigte ich mich. «Da passiert so was nicht!»
Ich fühlte mich an den Beginn des Lockdowns zurückversetzt, als ich so in der Schlange vor dem Supermarkt stand, mit drei Einkaufslisten ausgerüstet. Jeden Montag erledigte ich den Wocheneinkauf für zwei asthmakranke Freundinnen und für uns. Das nahm oft vier, fünf Stunden in Anspruch, nicht nur, weil sich die Schlange quälend langsam vorwärtsbewegte, sondern auch, weil immer genau das ausverkauft war, was auf den verschiedenen Listen stand. Der Anblick der leeren Regale, die Müdigkeit am Ende eines Tages, an dem ich nichts als nur gerade das Nötigste erledigt hatte, erinnerte mich damals an Maxie Wander, eine Lieblingsautorin meiner Jugend. Die Österreicherin war in die DDR ausgewandert, aus Liebe und Idealismus, und beschrieb ernüchtert ihren Alltag, der im Wesentlichen aus Anstehen und leeren Regalen bestand, aus Improvisieren und Umdisponieren. Zum Schreiben kam sie viel zu wenig. Das konnte ich ihr nachfühlen. Ich lebte damals allein mit meinem älteren Sohn, der noch sehr klein war, und versuchte, uns schreibend über Wasser zu halten. Auch für mich war die Zeit immer zu kurz. Doch wenn ich Maxie Wander las, kam ich nicht auf die Idee, mir leidzutun. Weder damals als junge Frau noch letztes Jahr im Lockdown.
Auch an diesem Sonntag dauerte es keine halbe Stunde, bis ich vor der üppig beladenen Vitrine stand und auf dies und das zeigte: Laugengipfeli und Schoggibrioche, Eierbrötli und Zopf natürlich. Die Sonne schien, die Kinder spielten, das Leben blieb einen Moment lang stehen, es war perfekt.