Meine Freundin Lena sagt, sie wache jetzt nicht mehr jeden Morgen mit diesem Gefühl der Panik auf, diesem Impuls, nach Luft zu schnappen. «Mein erster Griff geht nicht mehr zum Handy – na ja, oder wenigstens nicht direkt zu den neusten Nachrichten.» Sie sitzt auf einem Mäuerchen und lässt die Beine baumeln, sie kickt ihre Flip-Flops weg und fischt sie dann mit den Zehen wieder auf, wie ein Kind. So unbeschwert habe ich sie seit Jahren nicht gesehen. Sie malt auch wieder. In den letzten Jahren hat sich ihre Kunst auf witzige und bitterböse Transparente beschränkt, für deren sorgfältig gemalte Buchstaben sie Tage brauchte. Sie verbrachte ihre Zeit vor allem im Internet, in Foren, Gruppen, Chats und sozialen Medien. Beinahe täglich bekam ich einen Link von ihr, ein Youtube-Video, einen Spendenaufruf. Persönlichen Kontakt hatten wir immer seltener – schon vor Ausbruch der Pandemie. Und wenn wir uns sahen, konnte sie kaum über etwas anderes reden als über die politische Bedrohung, die sie in vielen Bereichen ganz direkt betraf. Ich teilte ihre Sorgen. Doch wenn ich ehrlich war, vermisste ich sie einfach, ganz egoistisch.
Und jetzt hab ich sie wieder, meine Freundin, die begeisterungsfähige, kindliche Künstlerin. Auf der Fahrt zurück nach Hause frage ich mich, ob mir die Erleichterung über den Machtwechsel auch so deutlich anzumerken ist. Und inwiefern mich die letzten vier Jahre verändert haben. Und ich erinnere mich, wie wir beide hemmungslos weinten, als Bidens Inauguration im Fernsehen übertragen wurde. Die tapfere Entschiedenheit, der gefühlvolle Pragmatismus erinnerten uns auf einen Schlag wieder daran, was wir beide an diesem Land so lieben, Victor und ich. Zwei Einwanderer, die es aus ganz unterschiedlichen Gründen hierher verschlagen hat, die so unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und die trotz allem denselben, vielleicht naiven Glauben an den amerikanischen Traum teilen. Dieser besteht nämlich nicht im Anhäufen von Reichtum, nicht im sprichwörtlichen Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär. Sondern im Recht darauf, das eigene Glück zu verfolgen.
Natürlich wurde nicht über Nacht alles besser. Es dauerte eine Weile, bis wir konkrete Änderungen feststellten. Plötzlich ging es mit dem Impfen «fürschi», und dann wurde das Einwanderungsverbot aufgehoben. Beide Entwicklungen machen unser persönliches Leben sehr viel leichter.
Aber entscheidender und gleichzeitig schwerer zu beschreiben ist das Nachlassen von Willkür und Wahnsinn. Vier Jahre lang – oder eigentlich fünf, wenn man die Wahlkampagne mit berücksichtigt – wurde die Schraube an unserem Rechtsempfinden, unserem Realitätsverständnis unerbittlich weiter angezogen, bis wir Dinge ernst nahmen, über die wir früher lauthals gelacht hätten. Das unablässige Einprasseln von absurden und verstörenden Meldungen stumpfte uns ab. Wir verloren das Vertrauen in unsere Erfahrungen und Empfindungen, wir konnten uns auf unseren gesunden Menschenverstand nicht mehr verlassen. Wir begannen hinzunehmen, was wir früher nicht für möglich gehalten hätten. Wir stumpften ab, wir rieben uns auf.
Und dann verebbte dieser gnadenlose Ansturm plötzlich, und wir merkten es nicht einmal gleich. Es war wie diese erste Stille nach einem Gewitter, wenn man mit angehaltenem Atem auf das nächste Donnergrollen wartet. Irgendwann schaut man sich an und zuckt mit den Schultern. Ist es vorbei? Ist es wirklich vorbei? Oder ist es nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm?