Milena Moser
Gut gemacht!

Hemmungen unterscheiden nicht nur Menschen von Schimpansen, wie der unvergessene Mani Matter sang, dieser brillante und liebevolle Analytiker unserer Volksseele. Sie unterscheiden auch Schweizer von Kaliforniern. Zum Beispiel am Strand.
Publiziert: 15.03.2021 um 13:11 Uhr
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Aktualisiert: 01.04.2021 um 11:45 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben und ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Am ersten Tag des neuen Jahrs habe ich mich zum ersten Mal ohne Taucheranzug in die kalten Wellen des Pazifiks gestürzt, und seither tue ich das ungefähr einmal die Woche. Wobei «kalt» ein relativer Begriff ist. Die Temperatur der San Francisco Bay bewegt sich das ganze Jahr so zwischen 10 und 14 Grad, die Lufttemperatur ist im Moment etwa dieselbe. Erst im Herbst, wenn sich der Nebel verzieht, wird es auch hier wärmer. Ich versuche also, keine Rekorde zu brechen, ich bin nicht mal sicher, ob das wirklich so gesund ist, wie alle behaupten. Ich schwimme gerne, so einfach ist es. Weder besonders gut noch besonders schnell, einfach gerne. Doch komisch, in all den Jahren, die ich hier schon lebe und gelebt habe, habe ich den Pazifik nie als «Schwimmbecken» wahrgenommen. Nicht unbedingt wegen der Temperatur, eher wegen der Wellen, der unberechenbaren Strömungen und ja, ich gebe es zu, auch wegen der zwar nur selten, aber eben doch ab und zu auftauchenden Haie. Doch dann lernte ich einen Schweizer kennen, der am Strand wohnt und sich regelmässig in die Wellen stürzt. Seine Begeisterung steckte mich an, und der Ozean tut das Seine. Ich träume schon vom Wasser.

Doch als wir letzte Woche die lange Treppe zum Strand hinuntergingen, hatte sich eine kleine Gruppe von Schwimmern versammelt. Drei Männer und zwei Frauen, die gerade aus dem Wasser gekommen waren. Wir wechselten ein paar Worte über das Wetter und den Wellengang, der mir persönlich zu hoch war.

Einer der Männer zuckte mit den Schultern. «Vor einer Stunde war es schlimmer.» Die Gruppe trifft sich täglich, gemeinsam schwimmen sie eine gute Stunde. Ich bleibe im Höchstfall zehn Minuten im Wasser, und manchmal schwimme ich nicht mal, sondern lasse mich nur von den Wellen herumwerfen. Die Vorstellung, dass diese versierten Schwimmer uns nun zuschauen würden, sehen, wie lange ich brauchte, um unterzutauchen, wie lange ich drinbleibe und … ein uraltes, längst abgelegt geglaubtes Gefühl überschwemmte mich, kälter als der Pazifische Ozean. Was sollen die Leute denken?

Plötzlich erinnere ich mich an meinen ersten Strandspaziergang in San Francisco, an all die Menschen, die joggten und surften und auf dem Kopf standen, die meditierten, Burgen bauten und auch mal ein Rad schlugen. Und zwar auch, wenn sie es gar nicht konnten. Auch wenn sie lächerlich aussahen dabei.

«Warum tun sie das?», fragte ich meine Nachbarin und erste Freundin hier.

Mara zuckte die Schultern. «Weil es sie glücklich macht?»

Ich seufzte. «Ich würde mich genieren.»

Der Blick, den sie mir daraufhin zuwarf, diese Mischung aus Verständnislosigkeit und Mitleid, löste ein Erdbeben in meinem Innern aus. Das war vor über 20 Jahren. Doch in diesem Moment holten mich diese alten Ängste wieder ein. Mein Bekannter war schon im Wasser, er winkte mir zu, was blieb mir übrig, als ihm zu folgen? Die Wellen waren hoch, ich wagte mich nicht weit hinein, aber ich liess mich ein paarmal überspülen. Als ich aus dem Wasser kam, standen die Schwimmer immer noch da. Verlegen wickelte ich mich in mein Tuch. «Zu wild für mich heute», wollte ich mich entschuldigen. Doch sie strahlten mich an und klatschten in die Hände.

«Good job!», riefen sie. «Gut gemacht! Juhuu!»

«Juhuu!», rief ich zurück.

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