Als Kind schaute ich am letzten Nachmittag des Jahres jeweils meinem Vater dabei zu, wie er seine guten Vorsätze vom letzten Jahr überprüfte. Mit einem Kugelschreiber ging er die mehrseitige, mit der Schreibmaschine getippte Liste durch, strich aus, was er verwirklicht hatte, meist nicht sehr viel. Versah mit einem Häkchen, was noch ausstand, und ergänzte hier und da. Das nahm den ganzen Nachmittag in Anspruch. Während dieser Stunden verschlechterte sich die Laune meines Vaters zusehends, obwohl er zum Trost und zur Unterstützung eine Flasche neben sich stehen hatte, aus der er sich immer wieder einschenkte. Die Etikette zeigte einen auch nicht gerade fröhlich aussehenden Mann mit einer gestreiften Schlafmütze, dem mein Vater sich irgendwie seelenverwandt fühlte. Irgendwann spannte er dann eine neue Seite in die Maschine und hackte die überarbeitete Liste seiner guten Vorsätze in die Tasten, die von Jahr zu Jahr länger wurde. Logisch, denn die meisten dieser Vorsätze wurden nie verwirklicht. Und doch unverdrossen weiter von einem Jahr zum nächsten übernommen. Dieser ganze Vorgang verwirrte mich als Kind zutiefst, wie so vieles, was ich bei den Erwachsenen beobachtete.
Mit guten Vorsätzen habe ich mich deshalb gar nie erst gequält. Was nicht heisst, dass ich mich nicht für verbesserungsfähig halte. Im Gegenteil. Aber das ist eher eine ständige Auseinandersetzung, die ich mit mir selbst führe. «Das kannst du besser, Moser!» Mit dem Jahreswechsel hat das nichts zu tun. Dass mit einem Glockenschlag, einem abgerissenen Kalenderblatt plötzlich alles anders und besser wird, das hat mir nie eingeleuchtet. Dass es nicht funktioniert, hatte ich ja zur Genüge beobachtet. Die Statistiken geben mir recht, die Geschäftsberichte der Fitnessstudios und Yogaschulen bestätigen es: Die wenigsten Neujahrsvorsätze überleben den Februar.
Vorige Woche hatte Victor einen Termin mit seiner Nierenfachärztin, die ihn seit seiner Transplantation betreut. Ungeschminkt und etwas grantig schaute uns die sonst immer so glamouröse Ärztin vom Bildschirm entgegen. Die Pandemie setze ihr zu, gestand sie, der Klinikalltag fehle ihr, der direkte Kontakt zu den Patienten. «Meine Frau geht mir auf die Nerven, meine Kinder gehen mir auf die Nerven, sogar mein Hund geht mir auf die Nerven!» Dann lachte sie: «Aber das ist ja jetzt alles absehbar!» Absehbar? Während ich noch diesem Wort nachhing, erklärte sie, dass der Covid-Impfstoff auch für Transplantierte zugelassen sei und dass Victor Prioritätsstufe zwei habe. Oder drei, das weiss ich jetzt nicht mehr genau, aber jedenfalls sei es absehbar, wie gesagt. Absehbar! Das Wort hallte nach wie ein Gongschlag. Eine fast körperliche Sehnsucht nach meinem alten Leben überwältigte mich, nach dem «Früher», dem «Vorher», nach allem, was ich als normal empfunden und für selbstverständlich gehalten habe. Dabei weiss ich doch, dass es dieses Vorher, dieses Früher, dieses Normal nicht mehr gibt, nicht mehr geben kann. Und dass das nicht nur schlecht ist.
Und in diesem Moment fasste ich meinen ersten und einzigen Vorsatz für dieses spiegelblanke und doch schon mit so vielen Erwartungen beladene neue Jahr: Nicht gleich wieder zu vergessen, was ich im letzten Jahr gelernt habe.