Milena Moser
Alles ist anders. Auch ich.

Wie sehr mich die amerikanischen Präsidentschaftswahlen und alles, was mit ihnen einherging, belastet haben, wurde mir erst wirklich bewusst, als sie endlich vorbei waren. Doch was heisst schon vorbei?
Publiziert: 16.11.2020 um 11:18 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2021 um 17:43 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Ich sass vor einem zerteilten Computerbildschirm, wie meist um diese Zeit. Frühmorgens hier, später Nachmittag in der Schweiz. Plötzlich ging es los. Autos hupten, Menschen jubelten und schrien, es wurde getrötet und mit Glocken gebimmelt.

«Was ist denn bei euch los?», fragte meine Gesprächspartnerin. «Das klingt ja wie nach einem Fussballmatch. Wer hat gewonnen?»

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was passiert war. Wer hatte gewonnen? Joe Biden! Ich brach das Gespräch ab und weckte meinen Mann. Wir rissen die Fenster auf. Der Jubel füllte das Haus. Die ganze Strasse flimmerte vor Aufregung. Ich begann zu zittern, und dann brach ich in Tränen aus. Victor war erstaunt. «Es war doch immer klar», sagte er. Und: «Ich habs doch gesagt.» (Anmerkung am Rande: Das ist eine Bemerkung, die man sich grundsätzlich verkneifen sollte, egal in welchem Zusammenhang.)

Ich verstand mich selbst nicht. Bisher hatte ich recht tapfer gehalten, fand ich. Doch während der Wahlnacht, als sich die «red mirage», vor der man uns gewarnt hatte, auf den Bildschirmen ausbreitete, konnte ich plötzlich kaum mehr atmen. Ich hatte Schmerzen, als trample jemand auf meiner Brust herum. Gleichzeitig beobachtete ich mich mit zunehmender Verwunderung. Was ist denn jetzt los, Moser?

Was los war? Ich hatte ein Déja-vu. Vor vier Jahren flog ich am Wahltag nach Atlanta, wo ich am nächsten Tag eine kleine Lesereise beginnen sollte. Damals machte ich mir keine Sorgen. Der einzige Mensch, den ich kannte, der Trumps Wahlsieg für möglich hielt, war – mein Mann. («Ich hab es doch gesagt!» Schon gut!) Damals schob ich seine düstere Vorahnung auf sein Trauma als politisch Verfolgter. Wirklich ernst nahm ich sie nicht. Es war dunkel, als ich in Atlanta ankam. Ich erinnere mich an das riesige Hotelzimmer, das ich kaum nutzen würde, an den Blick aus dem dreiundzwanzigsten Stockwerk über die Lichter der Stadt. Ich erinnere mich, dass ich mich durch alle verfügbaren Fernsehsender klickte und dann frustriert ausschaltete, als sie überall dieselben Resultate zeigten, als sich überall dieselbe bedrohliche rote Farbe über die Landkarte ausbreitete.

Was das für uns, zwei Ausländer bedeutete, würden wir erst nach und nach erfahren. Es erschütterte mich mehr als Victor. Er ist sich Repressionen gewöhnt, ich nicht. Ich bin schliesslich Schweizerin. Ganz selbstverständlich gehe ich davon aus, dass diese Tatsache mich schützt. Diese trügerische und ganz schön arrogante Gewissheit ist erstaunlich tief verankert. Doch die letzten vier Jahre haben mich verändert.

Jetzt schaue ich aus dem Fenster und winke meinen Nachbarn zu. Das Telefon klingelt ununterbrochen, Nachrichten trudeln ein, Freunde gratulieren, aus der Schweiz, aus Mexiko, von überall her. Die Erleichterung ist um die ganze Welt zu spüren, nur mich erreicht sie noch nicht. Nach der ersten überwältigenden Gefühlsaufwallung bin ich wie betäubt.

Das geht vielen meiner Freunde genauso. Wie nach einer Naturkatastrophe beginnt die eigentliche Arbeit, das Aufräumen, der Wiederaufbau erst, wenn die eigentliche Gefahr vorbei ist. Das wissen wir.

Aber immerhin ist das wieder möglich. Es gibt wieder Hoffnung. Und so langsam spüre ich sie auch.

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