Milena Moser über den Umgang mit dem Tod
Rettende Rituale

Am letzten Montag haben wir den Día de los Muertos gefeiert, den Tag der Toten. Es ist der wichtigste Feiertag im mexikanischen Kalender, im Jahresablauf meines Mannes und seit einigen Jahren auch für mich.
Publiziert: 06.11.2020 um 17:02 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2020 um 13:00 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

An diesem Tag laden wir die Toten zu uns nach Hause ein, um mit ihnen zu essen, zu lachen und ganz einfach zusammen zu sein. Dabei müssen wir uns ganz schön anstrengen, denn die mexikanische Tradition beruht auf der festen Überzeugung, dass es den Toten blendend geht. Dass sie sich an einem wunderschönen Ort aufhalten, an dem sich all ihre Wünsche erfüllen. Warum sollen sie sich also zu uns zurück bemühen? Aus Liebe. Aus Verbundenheit.

Diese Haltung war mir erst einmal total fremd. Sie widersprach allem, was ich kannte. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr leuchtete es mir ein. Der Tod gehört unausweichlich zum Leben. Er lässt sich nicht wegrationalisieren oder ignorieren. Warum ihn also nicht akzeptieren? Sich gar mit ihm anfreunden? Den Tod, wenigstens den eigenen, nicht zu fürchten, ist eine radikale Einstellung, die das Leben unendlich viel leichter macht.

Was nicht heisst, dass man nicht trauert. Doch wenn der Tod und das Sterben nicht mit einem Tabu belegt sind, ist man mit der Trauer auch weniger allein. Am Tag der Toten kommen sich auch die Lebenden näher, wenn sie ihre «Muertitos», ihre geliebten Verstorbenen, gemeinsam feiern. Jahr für Jahr ist mir dieser Brauch lieber geworden. Ich habe mich an die überall präsenten Totenköpfe und die tanzenden Skelette gewöhnt. Ich schätze die unbeschwerte Art, wie über die Toten gesprochen wird, ohne diese künstliche Ehrerbietigkeit, die nur Distanz schafft. Auch wenn ich anfangs schon mal zusammenzuckte, wenn jemand sagte: «Ach, verdammt, ich vermisse ihn so! Und ausserdem schuldet er mir immer noch Geld …» Doch diese Art zu reden, hält die Erinnerung lebendig. Schliesslich ist es nicht der Tod, der eine Beziehung beendet, sondern das Vergessen.

Dieses Jahr hatten diese Rituale eine besondere Bedeutung. Wenige Tage zuvor war meine Mutter gestorben. Nicht unerwartet und doch erschütternd. Die Nachricht erreichte mich Freitagnacht, obwohl sie erst am frühen Samstagmorgen gestorben ist. Denn sie war in der Schweiz und ich in Amerika, 9535 Kilometer weit entfernt und neun Stunden verschoben. Ich brauchte eine Weile, um den korrekten Zeitpunkt ihres Todes kommunizieren zu können, sagte immer wieder «gestern» statt «heute» und «in der Nacht» statt «frühmorgens».

Ich konnte nicht bei ihr sein. Nicht als sie krank war und auch nicht, als sie beigesetzt wurde. Dafür hatte ich den Día de los Muertos. Ich hatte ein Ritual. Es war nicht dasselbe. Es war nicht das, was ich gewollt hätte. Es war das, was ich in diesem Moment hatte.

Dankbarkeit. Trauer. Versöhnlichkeit. Schuld. Und wieder Dankbarkeit. All diese widerstreitenden Gefühle strömten aus meinem Herzen in meine Hände, die das scharfe Japanmesser hielten und vorsichtig den Linien der gefalteten Vorlage nachfuhren. Ein Blütenmuster entfaltete sich zu einem freundlich lächelnden Totenkopf aus blaugrünem Seidenpapier. Ihrer Lieblingsfarbe.

Ich brauchte sehr lange, um diese Muster zu schneiden, die den Altar schmücken würden. Es war das erste Mal, dass ich es alleine versuchte. Während ich arbeitete, dachte ich an meine Mutter. Ich spürte ihre Anwesenheit, meinte ihre Stimme zu hören. Und nachdem der Altar aufgebaut und die Rituale absolviert waren, breitete sich eine grosse Ruhe in mir aus.

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