Milena Moser
Und es bewegt sich doch!

In der Schweiz werden die Sicherheitsmassnahmen wieder verschärft, bei uns wurden sie ein wenig gelockert. Doch von einem normalen Alltag sind wir so weit entfernt, dass wir nicht einmal mehr wissen, was das eigentlich heisst, «normal».
Publiziert: 31.10.2020 um 14:46 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 14:25 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Und dann gibt es Tage wie diesen. Ich sitze an der Sonne, schaue auf die trägen, grauen Wellen der Bay, die schroffen Hügel von Treasure Island, die schimmernden Brückenpfeiler, zum Greifen nah. Vor mir ein Teller mit Austern auf geschabtem Eis, ein Glas Wein, mitten am Tag, an einem ganz gewöhnlichen Mittwoch. Doch was heisst das schon, gewöhnlich?

Das wissen wir alle nicht mehr. Wann war ich zuletzt in einem Restaurant? Ich glaube im Mai. Im wunderschönen, unterdessen von Waldbränden zerstörten Wine Country, wo damals weniger strenge Auflagen galten als in San Francisco. Der Ausflug ist eine bittersüsse Erinnerung. Ich schiebe die Sonnenbrille hoch und seufze.

«Dass so etwas wieder möglich ist …»

«Das Leben lässt sich nicht aufhalten», sagt Carmen, die mich zu diesem seltenen Luxus eingeladen hat. Sie ist gerade dabei, ihr Geschäft aufzulösen. Alles, was sie hatte, nicht nur finanziell, sondern ihre ganze Energie und Kreativität, steckte in diesem Einfraubetrieb. Wie es jetzt weitergeht, das weiss sie auch nicht. Aber sie besteht darauf, diesen Moment würdig zu begehen. Auch wenn sie ihre Sonnenbrille nicht abnimmt.

«Schau doch!» Sie zeigt auf die vollen Tische, auf die Schlange, die sich ums Gebäude zieht.

Als vor ein paar Wochen das Bewirten im Freien wieder erlaubt wurde, mussten die Gastwirte Initiative entwickeln. Strassenlokale haben in San Francisco keine Tradition, in erster Linie wegen der bissigen Winde, die auch an den schönsten Tagen abends aufziehen. In all den Jahren, die ich hier schon lebe, habe ich vielleicht zweimal draussen zu Abend gegessen, mit Jacke und Schal. Doch nun wurden überall Strassenstücke und Parkplätze in Terrassen umfunktioniert, Sperrholzwände hochgezogen, hastig zusammengehämmert, von lokalen Künstlern bemalt und dekoriert. Kaum war alles bereit, die ersten Gäste zu bewirten, fing Kalifornien Feuer. Giftrauch legte sich über die Stadt, die Bevölkerung wurde gewarnt, zu Hause zu bleiben. Die neu eröffneten Strassenlokale blieben erst mal leer. Mich verlässt schon beim Beschreiben dieser Entwicklung der Mut, doch hier gibt man nicht so schnell auf. Wie Carmen, die nicht nur das Ende ihrer Träume begiesst, sondern auf das Leben anstösst.

Die Wartenden zeigen keine Ungeduld. Sie schwatzen, schiessen Selfies, zeigen auf das Containerschiff, das unter der Brücke festzustecken scheint. Bewegt es sich? Bewegt es sich nicht? Sie sind hier, um ihre Lieblingslokale zu unterstützen. Aber auch, um zu geniessen, zu vergessen, zu leben, wie Carmen sagt. Mitten in einer Pandemie, mitten in dieser Unsicherheit, dieser Bedrohung, dieser Angst. Und wenn ich sage «mitten», dann hoffe ich natürlich, dass ich damit falsch liege. Dass ich «am Ende» hätte schreiben sollen. Am Ende einer Pandemie. Das erinnert mich daran, dass Carmen und ich uns Anfang März zufällig im Café an der Ecke getroffen haben. Damals waren wir uns beide einig, dass «diese Sache» in wenigen Wochen ausgestanden wäre. Acht Monate später …

«Auf unsere untrügliche Intuition!», lacht sie und schenkt nach.

«Prost!»

Ich schaue über das graue Wasser der Bay zu dem trägen Containerschiff. Und es bewegt sich doch.

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