Milena Moser
Ist das wichtig?

Es ist wie jedes Jahr eine wild zusammengewürfelte Gruppe, die Victor bei seiner Installation hilft. Vorkenntnisse, künstlerische oder handwerkliche Ausbildung hat keiner, auch ich nicht. Ich bin nur schon am längsten dabei.
Publiziert: 24.10.2020 um 13:44 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2020 um 13:00 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser

Jeder trägt etwas Eigenes bei zu dieser Zusammenarbeit. Die einen trauen sich auf die höchsten Leitern hinauf, die anderen haben keine Angst vor elektrischen Leitungen. Manche können sich geduldig den niffeligsten Niffeliarbeiten hingeben, andere sehen in einem Haufen Holzlatten bereits das fertige Gerüst und wissen genau, welches Teil mit welchem verschraubt werden muss. Es braucht immer ein paar Tage, bis sich ein Team eingespielt hat. So auch jetzt.

Doch Adam strapaziert meine Geduld. Der junge Musiker hilft zum ersten Mal mit. Ich kenne ihn nicht gut, obwohl er Victor oft im Atelier besucht. Ich weiss, dass er um Geld zu verdienen als Handlanger auf dem Wochenmarkt arbeitet. Ich weiss auch, dass er mit Victors Hilfe eine Trommel bespannt hat. Hat er sich immer schon so langsam und umständlich ausgedrückt, frage ich mich jetzt. Musste man ihm immer alles dreimal erklären? «Ich möchte nicht wissen, was der wieder geraucht hat», murmele ich. Victor schaut mich fassungslos an. «Adam hatte als Kind einen Hirntumor», sagt er. «Hab ich dir das nicht erzählt?»

«Ähm, nein, hast du nicht …»

Ein gutartiger zwar, der aber das Sprachzentrum beeinträchtigte und erst nach Abschluss des Wachstums entfernt werden konnte. «Adam hat mit 18 überhaupt erst Sprechen gelernt», sagt Victor. Während ich nach einem Mauseloch suche, in dem ich verschwinden könnte.

In den nächsten Tagen beobachte ich Adam. Er weicht Victor kaum von der Seite und reicht ihm die Werkzeuge, die er braucht, bevor er nach ihnen fragen kann. Ein bisschen wie ein chirurgischer Assistent, denke ich. Jemand, der nicht auf verbale Kommunikation angewiesen ist oder gelernt hat, sie zu umgehen.

Ich denke an Ty, einen der ersten Freunde, die Victor mir vorstellte. «Wir haben denselben Humor», sagte er. Ich mochte Ty sofort. Er hatte eine radikale Ehrlichkeit, die ich erfrischend fand. Was er arbeitete und wo er wohnte und warum ihn meist seine Mutter abholte, war nie ein Thema. Es dauerte bestimmt zwei Jahre, bis ich mir zusammenreimte, dass Ty ein Mensch mit Beeinträchtigungen ist, dass die Werkstatt, in der er arbeitet, zu einer sogenannten Einrichtung gehört, in der Ty auch wohnt. Die Erkenntnis schockierte mich weniger als die Tatsache, dass ich so lange gebraucht hatte, um sie zu erreichen.

«Warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt?», fragte ich damals.

Doch Victor zuckte nur mit den Schultern. «Ist das denn wichtig?» Ty ist der Freund, mit dem er respektlose Witze und komische Katzenfilme austauscht. Adam ist der, mit dem er stundenlang elektronische Musik aus den siebziger Jahren hört. Das hat er mir erzählt. Das ist wichtig.

Letztes Jahr sass ich an einer Party zwischen Ty und einem Filmemacher, der uns in Echtzeit eine hochkomplizierte Auseinandersetzung mit einem beruflichen Rivalen nacherzählte. Ich hatte den Faden längst verloren, schwieg aber höflich. Da unterbrach ihn Ty: «Ist das von Bedeutung?», fragte er, ehrlich verwirrt. «Ist das wirklich wichtig?»

Der Filmemacher verstummte schlagartig. Dann stiess er mir den Ellbogen in die Seite.

«Dieser Ty!», sagte er. «Ein echter Weiser!»

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