Milena Moser
Tapetenwechsel

Das Schlimmste lag hinter uns, der Himmel über San Francisco war blau, die Luftqualität «normal». Victor arbeitete in seinem Atelier an seiner nächsten Installation. Alles war gut. Aber ich musste einfach mal weg.
Publiziert: 26.09.2020 um 14:47 Uhr
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Aktualisiert: 23.12.2020 um 08:09 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Frühmorgens, als es noch dunkel war, setzte ich mich ins Auto und fuhr 816 Kilometer südöstlich in die Mojave-Wüste. Die liegt etwa auf halbem Weg zwischen San Francisco und Santa Fe. In den Jahren, in denen ich zwischen diesen beiden Städten hin und her pendelte, machte ich dort immer bei einer Freundin Halt. «Aber nicht, dass du jetzt nie mehr vorbeikommst», sagte sie, als ich ganz nach San Francisco zog. «Natürlich nicht!» Diesmal war der Zwischenhalt das Ziel.

Ich bin diese Strecke schon oft gefahren und jedes Mal ein bisschen stolz auf mich, dass ich das so problemlos hinkriege, ganz allein. Schliesslich habe ich erst im verhältnismässig hohen Alter von 36 Jahren Auto fahren gelernt, und auch nur unter grössten Mühen. Judy, die geduldige Fahrlehrerin von Home of the Fearless Driver, verbrachte nicht weniger als 60 Stunden damit, mir die Angst vor Autobahneinfahrten und Brücken zu nehmen. Eine Angst, die den Bewegungsradius in San Francisco, einer Stadt, die auf drei Seiten von Wasser umschlossen und also nur über Brücken zugänglich ist, ziemlich drastisch einschränkt. Judy hatte einen ganzen Konvent voller älterer Nonnen durch die Fahrprüfung geschleust. Aber dass jemand in der Autobahneinfahrt eine panische Kehrtwendung hinlegte, das hatte auch sie noch nie erlebt. Aber ich habe auch diese Angst abgelegt und fahre jetzt nicht nur mühelos, sondern sogar gern. Vor allem über Land. Die unendliche Weite der amerikanischen Landschaft, ihre Grandiosität ist ein Klischee. Man kennt die schnurgeraden Highways, die sich wie eine Fata Morgana am flimmernden Horizont auflösen, aus Filmen. Aber das sind keine Kulissen. Sie sind echt. Ein Klischee ist schliesslich nichts anderes als eine zu oft zitierte Wahrheit.

Unterwegs höre ich die Misch-CDs, die mein Bruder seit Jahren aufnimmt. Vor jeder längeren Autofahrt lege ich relativ wahllos sechs von ihnen in den Player – ja, ich hätte sogar noch ein Kassettenfach. Auch mein Auto ist langsam alt.

Während ich die Musik höre, denke ich an meinen Bruder, fühle ich mich ihm verbunden. Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass ich ihn gesehen habe. Ihn oder sonst jemanden in der Schweiz. Meine Familie, meine Freunde, alle. Ob ich meine Kinder nicht vermissen werde, war wohl die Frage, die ich damals, vor meiner Abreise, am häufigsten hörte. Ich war nie ganz sicher, ob sie wirklich ernst gemeint sein konnte. Doch wenn ich dann scherzeshalber antwortete: «Kinder, welche Kinder?», kam das nicht gut an. Natürlich vermisse ich meine Kinder, hallo?! Aber ich vermisste sie auch, als wir noch im selben Land lebten. Ich vermisse sie, ob ich sie zwei Tage nicht sehe, zwei Wochen oder zwei Monate. Die Zeit, die wir zusammen verbringen, ist umso kostbarer und intensiver. Dazwischen behelfen wir uns mit Whatsapp und Skype und all den anderen wunderbaren Errungenschaften der Neuzeit. Wie wir es jetzt auch tun. Natürlich ist es nicht dasselbe. Natürlich ist es schwer. Aber das sind nun mal die Umstände jetzt. Umstände, unter denen so viele Menschen leiden. Wir haben uns nicht verkracht, niemand ist gestorben. Wir vermissen einander nur.

Wie bestellt klingt nun Todd Sniders etwas näselnde Stimme aus dem Lautsprecher.

«I'm just happy to be here at all», singt er. Und ich singe mit.

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