Milena Moser
Oranger Himmel

Vielleicht haben Sie letzte Woche die Bilder in der Zeitung gesehen. Sie wurden offenbar auch in der Schweiz gezeigt. Und glauben Sie mir, sie waren nicht übertrieben und nicht verfälscht. Der Himmel über San Francisco war orange.
Publiziert: 20.09.2020 um 09:50 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2020 um 15:15 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Auf dem Weg zur Arbeit klingelte meine Freundin Theresa an der Tür. Sie brachte mir ein Pfund Lachs, sie hatte zu viel eingekauft. «Schau dir das an», sagte sie und zog mich auf die Strasse hinaus. Bis zu diesem Moment hatte ich nur zur Kenntnis genommen, dass es nicht wirklich hell werden wollte. Doch das war leider schon seit Wochen so. Seit der Rauch der Waldbrände rund um San Francisco den Himmel verdüstert. Dass dieser Tag anders war, merkte ich erst, als Theresa nach oben zeigte. «Schau doch!»

Es war halb neun Uhr morgens. Die Sonne war nicht zu sehen. Es war dunkel und gleichzeitig – orange. Der Himmel war orange. Nicht leuchtend orange, sondern düster, verhangen, bedrohlich. Und irgendwie auch total künstlich, ehrlich gesagt. Als wären wir in einem mit billigsten Mitteln produzierten Horrorfilm gefangen.

So blieb es den ganzen Tag. Wir verglichen Bilder – «Ohne Filter!» – und Schadstoffwerte – «Bedenklich! Ungesund!». Ziemlich bald wurde die Bevölkerung gewarnt, ihre Häuser und Wohnungen vorläufig nicht zu verlassen. Doch was hiess vorläufig?

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wichtig meine kleinen Quartierrundgänge für mein Wohlbefinden waren, meine wöchentlichen Stadtwanderungen mit Theresa, wie sehr mich unser verwilderter Garten in dieser schwierigen Zeit beschäftigt und getröstet hatte. Und jetzt war das alles plötzlich auch nicht mehr möglich? Ich gebe es zu, ich hatte meine liebe Mühe, das zu akzeptieren.

«Was denn noch?», wetterte ich, die Hand zur Faust erhoben. «Was wollt ihr uns denn noch wegnehmen?» Die Schicksalsmächte zuckten nur mit den Schultern.

Victor träumte, dass in seinem Studio eingebrochen wurde. Alle seine Computer waren gestohlen (dazu muss man wissen, dass sein riesiger Schreibtisch gut auch als Computermuseum dienen könnte). «Ich war vollkommen verzweifelt», erzählt er. «Ich dachte, alles ist weg, meine Arbeit, meine Unterlagen, meine Notizen, mein ganzes Leben, alles. Doch dann sah ich, dass sie die Kabel dagelassen hatten. Und ich folgte den Kabeln bis unter den Tisch und siehe da: Die Laufwerke hatten sie dagelassen. Da standen sie, brav nebeneinander aufgereiht und unversehrt. Nur die Bildschirme waren weg. Alles, was wirklich wichtig ist, war noch da.»

Folge den Kabeln, ermahnte ich mich. Alles Wichtige ist noch da. Immerhin haben wir ein Haus, in dem wir bleiben können. Die Mahnung, das Haus nicht zu verlassen, hilft den über 35'000 Obdachlosen in San Francisco herzlich wenig.

«Uns geht es gut», murmelte ich vor mich hin. Immer wieder: «Uns geht es gut.»

Am nächsten Tag war der Himmel nicht mehr orange, sondern nur noch gelblich-grau verhangen. Die Luftqualität pendelte sich bei «ungesund» ein. Das Bedürfnis, nach draussen zu gehen, verschwand von allein. Selbst die Katzen hörten auf, an der Tür zu kratzen. Der billige Horrorfilm verwandelte sich in ein nordisches Drama. Würde es nun immer so bleiben? Vielleicht.

Doch nach einer knappen Woche sah ich eines Morgens etwas Seltsames aus dem Küchenfenster. Ich brauchte einen Moment, um es zu erkennen: Tageslicht. Ich riss das Fenster auf. Der Himmel war beinahe blau, etwas Gelbes, Rundes blendete mich, und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so glücklich war.


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