Mein ehemaliger Nachbar Jack hat letzte Woche seinen 91. Geburtstag gefeiert. Letztes Jahr, an seinem 90., war er noch rüstig genug, um die von seinen Kindern und Enkeln sorgfältig geplante Feier ständig mit seinen eigenen Beiträgen zu durchkreuzen und damit den Alkoholkonsum gewaltig anzutreiben. «Versuch lieber meinen selbst gemachten Krabbensalat», lockte er die Gäste vom liebevoll angerichteten Buffet weg. «Hat mich eine schöne Stange Geld gekostet.» Dazu muss man sich vorstellen, dass Jack aussieht wie Onkel Junior aus der Fernsehserie «The Sopranos» und ein bisschen auch wie Popeye. Das letzte Jahr hat aber auch dem Unverwüstlichen hart zugesetzt. Nach einem Schlaganfall und allen möglichen Komplikationen, die auf mangelhafte medizinische Versorgung zurückzuführen sind, ist er nur noch begrenzt mobil und wird zu Hause von wechselnden Pflegenden betreut.
Seither ruft er mich wieder öfter an.
«Hast du das mit der Post gehört?», fragt er. Ja, habe ich. Was jetzt publik wurde, spüren wir seit sechs Monaten. Die bislang erstaunlich zuverlässige amerikanische Post, die selbst meinen verwöhnten Schweizer Ansprüchen gerecht wurde, liegt am Boden. Aus politischen Gründen. Von der Regierung lahmgelegt, um die Briefwahlen zu verhindern. Das ist keine Verschwörungstheorie, das hat der Präsident selbst verkündigt. Und auch wenn gewisse Massnahmen angesichts der landesweiten Empörung vorerst aufgeschoben wurden, heisst das leider nicht, dass auch die bereits entlassenen Mitarbeiter, entsorgten Sortierungsmaschinen und abtransportierten Briefkästen ersetzt werden.
«Ich weiss», empöre ich mich, ohne einen Moment innezuhalten und nachzudenken, was leider eine meiner schlechteren Gewohnheiten ist. «Ich hab ja nicht mal meine Geburtstagsgeschenke bekommen, und die Belegexemplare von meinem Verlag sind auch nicht angekommen!» Dabei weiss ich doch, dass das Luxusprobleme sind. Andere bekommen ihre Gehaltszahlungen nicht. Rechnungen bleiben ebenso im heillos überforderten System stecken wie die entsprechenden Zahlungen. Und in Amerika hat man nicht lange Zeit, um eine Rechnung zu bezahlen. Mit Mahnungen und anderen Höflichkeitsmassnahmen halten sich Firmen, Vermieter, Telefongesellschaften oder Elektrizitätswerke meist nicht länger auf.
Jack hört mich höflich ab und meint dann trocken, er würde ja meine Geburtstagsgeschenke gegen seine Rente tauschen. Und/oder die Medikamente, die ihm vor Tagen ausgegangen sind. Hat die Versicherung die Lieferung per Post abgesegnet, können sie auch nicht mehr in der Apotheke abgeholt werden. Wer sie zum Überleben braucht, hat halt Pech gehabt. Ich schweige beschämt.
Jack ist ein Veteran des Koreakriegs. Er war bei der Navy, hat den Adler mit dem Anker in den Krallen auf den Unterarm tätowiert.
«Schon komisch», sagt er jetzt. «Ein Land, in dem die Wahlen gefährdet sind und die Bevölkerung leidet – da hätten wir doch früher unsere Truppen hingeschickt. Die Demokratie wiederhergestellt, die Leute befreit. Milena, in so einem Fall hätte Amerika eingegriffen!»