Die Taktik, mir die Hände vor die Augen zu schlagen, um mich unsichtbar zu machen, hat schon als Kind nicht funktioniert. Und doch finde ich sie immer noch reizvoll. Was kann ich sagen: Ich bin müde. Ich bin zermürbt. Wie alle anderen auch.
Das Schlimmste an diesem wenigstens hierzulande nicht enden wollenden Albtraum ist nicht einmal die ständige Angst um meinen immunsupprimierten Mann. Das Schlimmste ist dieses bisher ungekannte Ausmass an (selbst-)gerechtem Zorn, die verhärteten Fronten, die hochgepeitschten Emotionen, die Unversöhnlichkeit. Das Schlimmste ist, dass ich langsam nicht den Glauben an meine Mitmenschen verliere – sondern vor allem auch an mich selbst.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich hielt mich noch nie für einen besonders guten Menschen. Aber immerhin habe ich den Anspruch, keinen Schaden anzurichten, jedenfalls nicht mutwillig. Eine Situation wenn möglich besser, aber sicher nicht schlimmer zu machen. Irgendwie von Nutzen zu sein, etwas zum allgemeinen Wohlbefinden beizutragen. Nicht, dass ich diese noblen Ziele je erreicht hätte. Aber so weit wie jetzt, während dieser Pandemie, hab ich mich noch nie von ihnen entfernt.
So erfüllte mich die Nachricht, dass ein prominenter amerikanischer Covidleugner an der Krankheit gestorben ist, die er eben noch als Erfindung der Medien denunzierte, mit einer gewissen Genugtuung. Im selben Moment öffnete sich ein Abgrund in mir. Wie bitte? Was war das? Ein Mensch war gestorben, und ich dachte, «geschieht ihm recht»? Ich erkannte mich nicht mehr. Ich machte mir Angst.
Letzte Woche sassen wir unter einem Baum und assen Brot und Käse. Als ich das Messer sauber wischen wollte, stellte ich mich derart ungeschickt an, dass ich mir den Zeigefinger aufschlitzte. Nicht tragisch. Kein Fall für den Notarzt. Aber es blutete doch recht spektakulär. Und es tat weh. Und … ich hasse es, das zuzugeben, aber ja, ich jammerte. Und das vor Victor, den ich öfter, als ich zählen mag, in die Notaufnahme begleitet habe, der unendlich schlimmere Verletzungen immer stoisch ertragen hat. Zu sagen, das sei mir peinlich gewesen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Doch er verarztete mich mitfühlend und gekonnt und meinte nur, natürlich tue das weh, das wisse er doch auch. «So viele Nervenenden in einer Fingerkuppe!»
«Ja, aber du würdest wegen so was doch nicht jammern!»
Er zuckte nur mit den Schultern.
«Na und? Ich bin nicht du, du bist nicht ich.»
In diesem Moment beschloss ich, die Hoffnung nicht aufzugeben. Den Glauben nicht zu verlieren. Nicht an die anderen, aber vor allem nicht an mich selbst. Natürlich kann ich nur das beitragen, was ich persönlich für richtig halte. Für mich ist das ganz klar das Einhalten der Vorschriften und der Vorsichtsmassnahmen. Und ebenso klar werde ich weiterhin einen weiten Bogen um die hierzulande recht gut vertretenen Maskenverweigerer machen. Aber ich werde den Zorn nicht weiter anfachen, nicht in mir und nicht in den anderen. Ich werde die Emotionen nicht hochkochen. Ich werde nicht zu dieser Unversöhnlichkeit beitragen. Stattdessen werde ich mich immer wieder erinnern: «Du bist nicht ich, ich bin nicht du.»
Ich bin voller guter Vorsätze. Wer weiss, vielleicht beeindrucken sie das Virus ja doch.