Hätte ich vor fünf Jahren gewusst, dass ich eines Tages auf unbestimmte Zeit in Amerika festsitzen würde, ohne ausreisen zu können, ohne meine Familie und Freunde sehen, ohne meine Lesereisen durchführen zu können, wäre ich vielleicht nicht ausgewandert. Doch wer konnte das schon wissen? Wer konnte die jetzige Situation voraussehen? Am ehesten noch meine Mutter, die mich gewarnt hatte: «Du weisst nie, was als Nächstes passiert.» Das hatte ich damals nicht weiter ernst genommen. Denn gerade auf diesem Nichtwissen darüber, was als Nächstes passiert, beruht ja meine schulterzuckende Sorglosigkeit, die mir oft als Mut ausgelegt wird. Und auf der Erfahrung, dass es irgendwie schon immer gut herauskommt. Selten so, wie ich es mir vorgestellt habe, aber gut.
Die aktuelle Lage der Dinge sprengt allerdings auch meinen Erfahrungsrahmen und lässt mich manchmal schon verzagen. Und es ist gerade diese Ungewissheit, die mich am meisten fordert. Plötzlich finde ich es nämlich nicht mehr so befreiend, dieses «Du weisst nie, was als Nächstes passiert». Es zermürbt mich langsam. Ich greife nach Prognosen und Vorhersagen wie nach Strohhalmen, und wie Strohhalme knicken diese auch immer wieder ein. Es dauert noch zwei Wochen, nein, es dauert noch ein Jahr. Wir öffnen die Geschäfte wieder, nein, wir öffnen sie nun doch nicht. Wir haben keine Neuansteckungen, jetzt haben wir doch Neuansteckungen. Wir machen mehr Tests, Moment, die Tests sind leider nicht zuverlässig. Und das ist ja nur die Pandemie. Um die aktuelle politische Situation in Amerika zu beschreiben, fehlen mir diese Woche die Worte. Als stabil würde sie jedenfalls niemand bezeichnen.
Und doch. Gibt es diese Momente. Wenn die Sorgenmühle aufhört, sich zu drehen. Momente puren Glücks. Und dann denke ich, es gab wohl nie eine Zeit, die uns radikaler dazu gezwungen hat, im Moment zu leben. Denn der Moment ist alles, was wir haben.
Sechs Wochen nach unserer Hochzeit wollten wir endlich unser geplantes Picknick nachholen. Manche Strände und Parks sind bereits wieder geöffnet, die Picknickplätze allerdings noch nicht. Das Wetter war an diesem Tag auch nicht so toll. San Francisco zeigte sich von seiner sommerlichen, das heisst nebligen und kühlen Seite. Auf der anderen Seite der Brücke, wo das Wetter normalerweise besser ist, empfing uns das, was man hier «nassen Nebel» nennt. Ich kenne es als Nieselregen. Ich spürte, wie mich der Mut verliess. Die graue Nebeldecke kroch durch die geschlossenen Scheiben und legte sich um mich. Schweigend fuhren wir die kurvige Strasse auf den Mount Tam hinauf, immer wieder denselben Mountainbiker überholend, wie mir schien.
«Oh nein«, jammerte ich. «Das wird wohl wieder nichts mit unserem Picknick!« Ich sah uns schon wieder, genau wie vor sechs Wochen, auf unserem Wohnzimmerteppich enden. Doch Victor lachte nur. «Der Berg ist rund, vergiss das nicht», sagte er. «Auf der anderen Seite kann es ganz anders aussehen.» Und so war es auch. Hinter der nächsten Kurve schien die Sonne. Wir fanden ein ruhiges Plätzchen, breiteten unser Picknick auf der Ladefläche von Victors Truck aus, und jedes Mal, wenn der immer gleiche Mountainbiker an uns vorbeifuhr, versteckten wir wie zwei Teenager schnell die Champagnergläser.
Der Berg ist rund, vergiss das nicht.