Milena Moser
Es ist zum Niederknien

Während in der Schweiz der Alltag wenigstens schrittweise wieder aufgenommen wird, werden hier die Massnahmen verschärft. Fast überall herrscht jetzt eine absolute abendliche Ausgangssperre. Zu Pandemie und Wirtschaftskrise kommen Polizeigewalt und Rassenunruhen hinzu.
Publiziert: 06.06.2020 um 15:31 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2020 um 18:33 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow

Wieder stehe ich vor der feierlichen City Hall, Maske vor dem Gesicht und Abstand wahrend. Doch diese Woche ist der Grund kein romantischer, sondern ein herzzerreissender. Ich nehme an einer gewaltfreien Protestveranstaltung gegen Polizeigewalt teil, an einem sogenannten Kneel-in. Wir werden unseren Gefühlen Ausdruck verleihen, indem wir niederknien. Ich bin zu früh da, das erste Mal seit Monaten mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, die auch zu ihren besten Zeiten mehr zufällig verkehren. Der weite, von jungen Platanen beschattete Platz füllt sich langsam. Mit Menschen aller Altersgruppen und Hautfarben. In einer Gruppe weisshaariger Protestveteraninnen erkenne ich meine Nachbarin Nancy. Familien mit Kindern, die hier vielleicht das Fach Gemeinschaftskunde durchnehmen. Viele, viele junge Leute, die ihre Schilder hochhalten. Doch im Unterschied zu anderen Demonstrationen sehe ich keine geistreichen Wortspiele, keine lustigen Sprüche. «I can’t breathe», steht auf den meisten. «Ich kann nicht atmen.»

Doch das ist es ja gerade, denke ich. Ich kann atmen. Ich kann spazieren gehen, ich kann Auto fahren oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ich kann einkaufen, ich kann mich sogar über unangeleinte Hunde beschweren. Ohne befürchten zu müssen, angezeigt, verhaftet, verprügelt oder ermordet zu werden. Wenn ich mir, wie das Müttern auf aller Welt eigen ist, Sorgen um meine Söhne mache, dann nicht darum, dass sie von einem Polizisten angehalten, verhaftet, verprügelt oder ermordet werden.

Bei meinem Mann sieht es allerdings schon ein bisschen anders aus.

Was unterscheidet uns? Die Hautfarbe. Der geografische Zufall der Geburt.

Kann das, darf das wahr sein?

Das ist es, was mir den Atem verschlägt.

Den Reden höre ich nur mit halbem Ohr zu. Der Platz hat sich gefüllt, doch der Sicherheitsabstand wird eingehalten. Ich bin Teil einer Masse und doch allein.

Dann knien wir uns nieder. Automatisch nehme ich die Haltung ein, die ich vor Jahren in meiner Zenschule gelernt habe, sinke in die Knie, lege die Stirn auf den Boden und wende die Handflächen nach oben. Die Amerikaner knien allerdings nur mit einem Bein und lassen den anderen Fuss aufgestellt, so als ob sie jemandem einen Heiratsantrag machen wollten. Sie knien wie Knappen, die zum Ritter geschlagen werden, wie der Footballstar Colin Kaepernick, der so vor vier Jahren bereits gegen polizeiliche Willkür und tödliche Gewalt gegenüber dunkelhäutigen Amerikanern protestierte. Und so seine Karriere beendete.

Doch egal, wie man es angeht – das Knien ist eine höchst emotionsgeladene Haltung. Es ist eine Geste der Demut. Es drückt aber auch Dankbarkeit aus. Und eine gewisse Hingabe an das Unabänderliche. Und so presse ich meine Stirn auf den ausgetrockneten Rasen, schliesse die Augen und versuche, die überwältigenden und widersprüchlichen Gefühle auszuhalten, die mich überschwemmen. Ich denke wieder an Victor und was mich die letzten sechs Jahre des Zusammenlebens mit ihm gelehrt haben: Wie privilegiert ich bin. Und wie wenig selbstverständlich das ist. Es ist genau das, was diese Geste des Niederkniens ausdrückt: Demut. Dankbarkeit. Und das Erkennen meiner Hilflosigkeit.

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