Ich kenne D. als erfolgreichen Wissenschaftler, Professor und Autor. Als glücklichen Vater, als einen Mann, der auch nach vierzig Jahren Ehe noch ganz offensichtlich in seine Frau verliebt ist. Ich kenne ihn als den Freund, den man anruft, wenn die Wasserleitung leckt oder das Auto auf weiter Flur stehenbleibt. Und offenbar bin ich ganz automatisch davon ausgegangen, dass ein derart gelungenes Leben auch unter einem besonders guten Stern begonnen haben musste. Stattdessen lese ich jede Woche mit Tränen in den Augen von Armut, Hunger und Gewalt, von seelischen Kränkungen und Demütigungen. Und staune über seinen beiläufigen, gelassenen Ton. Mehrmals erwähnt er, dass er seinen Eltern dankbar sei. An einer Stelle behauptet er gar, sie hätten ihm ja keinen Schaden zugefügt.
«Wie kannst du das sagen?», rufe ich. «Dein Vater hat dich verprügelt, deine Mutter hat dich hungern lassen, du warst ständig mit Mangelerscheinungen im Spital! Dir wurde jeden Tag gesagt, du seist nichts wert! Wenn das nicht Schaden zufügen ist …!»
Er zuckt nur mit den Schultern. «Das konnte ich doch nicht persönlich nehmen!»
Das verschlägt mir erst mal die Sprache. Zu so einer Erkenntnis bin ich erst nach gefühlten hundert Jahren Therapie gekommen. Was hatte D. mir schon als Vierjähriger voraus? Ich entdecke die Antwort in einem Halbsatz: «Weil ich ja ständig nach Gründen suchte, um glücklich sein …»
Das ist fast wörtlich, was Victor sagt, wenn er von seinem Leben erzählt, in dem es an Schicksalsschlägen auch nicht mangelt. Und hier möchte ich an meine Kolumne von letzter Woche anknüpfen, in der ich vom ganz alltäglichen Rassismus erzählte, dem er hier ausgeliefert ist. Ich habe ihm nicht erzählt, wie viele negative Reaktionen dieser Bericht ausgelöst hat. Er würde es nicht verstehen. Weil er sich ja gar nicht beklagt. Ich beklage mich für ihn. Und ich war darauf gefasst. Nie bekomme ich so viele Leserbriefe, wie wenn ich über Benachteiligungen schreibe. Neben vielen herzlich mitfühlenden gibt es da immer auch empörte Reaktionen:
«Und was ist mit uns? Wir leiden schliesslich auch!»
«Ich bin auch benachteiligt! Ich werde auch diskriminiert!»
Früher haben mich solche Reaktionen, oder eher die Heftigkeit dieser Reaktionen, verstört. Heute machen sie mich traurig. Weil ich heute grösseres Mitgefühl habe. Wie tief muss der Schmerz dieser Leserinnen und Leser sitzen. Wie verlassen müssen sie sich fühlen. Und das kann ich nachvollziehen. Das kenne ich auch. Es gibt wohl nichts, was der Seele mehr Sauerstoff entzieht als das Gefühl, nicht gesehen zu werden. Nicht zu zählen.
Im Gegensatz zu Victor und zu meinem memoirenschreibenden Freund D. hatte ich diese innere Kraft, diese wilde Entschlossenheit, glücklich zu sein, nämlich nicht schon als Kind. Ich musste sie mir in einem mühsamen, schmerzlichen und manchmal endlos scheinenden Prozess erarbeiten. Deshalb möchte ich es einfach noch einmal ganz klar sagen: Ich radiere Ihr persönliches Leiden nicht aus, wenn ich über das anderer schreibe. Ich weiss, dass es nicht einfach ist, dieses Leiden hinter sich zu lassen.
Aber es lohnt sich. Oh, und wie es sich lohnt!