Milena Moser
Meine Einführung in den alltäglichen Rassismus

Ja, ich dachte auch einmal, ich wisse, was Rassismus sei und was nicht. Bis ich mich in einen nicht weissen Mann verliebte und die Welt mit neuen Augen sehen lernte. Und diese Augen möchten nur noch weinen.
Publiziert: 20.06.2020 um 13:45 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2020 um 18:33 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow
Milena Moser

Ich habe jede Freude am Schuhekaufen verloren, und das war immerhin einmal ein wichtiger Teil meines Lebens. Aber als ich Victor das erste Mal in meinen Lieblingsladen an der 24th Street mitnahm, wurden wir nicht einmal bedient. Und zwar auf eine Art nicht bedient, die sehr pointiert war. Das hatte ich noch nie erlebt. Und ich verstand es nicht einmal. Bis die Verkäuferin im nächsten Laden übertrieben langsam und laut erklärte, dass die Schuhe, die Victor anprobieren wollte, aus Leder seien. «Verstehen Sie, Le-der! Das kennen Sie wahrscheinlich nicht …»

Das Schlimmste daran war, wie lange ich brauchte, um es richtig einzuordnen. Ich war so wenig auf dieses empörende Verhalten gefasst, dass ich es im ersten Moment gar nicht wahrhaben wollte. Während Victor es irgendwie immer erwartet. Er war schon halb zur Tür hinaus, als ich endlich mit dem Fuss aufstampfte und nach der Chefin verlangte. Dass ich mich so aufregen konnte, war natürlich ein weiteres Anzeichen meines Privilegs. Victor beschwert sich nie. Das kann er sich nicht leisten.

Und das ist der Unterschied. Ich lebe trotz allem immer noch im Bewusstsein, Rechte zu haben. Doch das Traurige ist, dass mir dieses Gefühl langsam auch abhandenkommt.

Unterdessen gehe ich ungefragt überallhin mit. Wenn ich dabei bin, lässt der Warenhausdetektiv Victor ungestört aussuchen. Führt der Labortechniker seine Blutentnahme durch, ohne erst dreimal bei der Ärztin nachzufragen, ob sie auch wirklich nötig sei. Glaubt die Empfangsdame, der Schalterbeamte, dass er tatsächlich einen Termin hat. Obwohl ich alleine auch in Trainerhosen bedient würde, ziehe ich mir nun auch automatisch für jeden Arztbesuch, für jeden Gang zum Amt einen Blazer über. Dass Victors Wertsachen im Krankenhaus nicht unter seinem Namen, sondern unter dem Codenamen «Horse» (für «Homeless») abgelegt wurden, konnte ich allerdings nicht verhindern. Obwohl ich bei der Aufnahme dabei gewesen war und alle nötigen Angaben zu seiner Person gemacht hatte. Ich konnte auch nicht verhindern, dass eine Angestellte des Schlaflabors meine Aussage, er bewege sich und rede im Schlaf, als «Verdacht auf gewalttätiges Verhalten» in seine Patientenakte setzte. Wie oft ich schon gefragt wurde, wie viel er denn trinke, kann ich gar nicht mehr zählen. Man weiss ja, wie diese Latinos sind!

Neulich habe ich mein Portemonnaie ausgeräumt, den Bibliotheksausweis und die Mitgliedskarte des Museums zur Seite gelegt. Ich konnte sehen, dass Victor etwas sagen wollte. Doch dann zuckte er mit den Schultern. «Du hast recht, du brauchst die wahrscheinlich nicht.» Er hingegen, er trägt immer so viele Beweise seiner Identität und Ehrbarkeit mit sich, wie er nur finden kann. Als er vor ein paar Jahren auf dem Fussgängerstreifen von einem telefonierenden Techie über den Haufen gefahren wurde, der blind einen Bus überholt hatte, wollte die Polizei ihn verhaften. Ihn, Victor, der mit einem verdrehten Bein inmitten seiner verstreuten Einkäufe auf der Strasse lag. Nicht den weissen Fahrer eines massigen Statussymbols. Nur dem vereinten Protest der Sanitäter und der zusammengelaufenen Nachbarn war es zu verdanken, dass das nicht passierte. «Und weil ich all diese Karten in meinem Portemonnaie hatte», ist Victor überzeugt.

Wie gesagt, ich möchte weinen.

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