Milena Moser
Das Glück der anderen

Ein glückliches Ereignis ziehe unweigerlich mehr Glück nach sich, hat Victor versprochen. Und er hat recht behalten. Als ich vor ein paar Tagen unsere Heiratsurkunde abholte, sah ich ein junges Paar, das trotz der obligaten Masken vor Glück fast zu platzen schien.
Publiziert: 01.06.2020 um 17:33 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Der Mann trug einen etwas zu engen Anzug, auf seinen breiten Schultern sass ein kleiner Junge mit einem Feuerwehrhelm. Die Frau war hochschwanger, doch ich erkannte sie sofort.

«Erin!», rief ich und winkte heftig. Sie winkte zurück, doch bevor wir mehr sagen konnten, wurden wir schon in einem weiten Bogen aneinander vorbei hereingeschleust.

Wie lange hatte ich sie nicht gesehen? Es musste zwei Jahre her sein. Kennengelernt hatte ich die erfrischend rundliche Fitnesstrainerin, als sie in meiner Nachbarschaft ein Spin-Studio eröffnete. Jedes Mal, wenn ich zum Einkaufen ging, versuchte sie mir einen Gutschein auszuhändigen. Ich lehnte immer ab, trotzdem kamen wir ins Gespräch. Es dauerte nicht lange, bis sie mir erzählte, dass sie auch ein Buch geschrieben habe.

«Würdest du es lesen?»

Ich zögerte. Doch ich mochte die junge Frau, bewunderte die schier unerschöpfliche Energie der alleinerziehenden Mutter, die eine ganze Kette von Fitnesszentren aufgezogen hatte. Unser erstes Treffen fand auf ihren Wunsch in einer Weinbar statt. Auch das mochte ich an ihr, diese Bereitschaft, das Leben zu geniessen, auch an einem grauen, nebligen Montagnachmittag.

Ihr Buch handelte von ihren Abenteuern im Dating-Dschungel, eine schier endlose Aufzählung von manchmal deprimierenden, manchmal komischen, aber immer unbefriedigenden Begegnungen. Es war direkt und offen, in einem etwas trotzigen Ton geschrieben. Fast, als wolle sie etwas beweisen. Ich hatte es nicht ungern gelesen, aber etwas fehlte mir.

«Ich erfahre nichts über dich», versuchte ich mein Unbehagen auf den Punkt zu bringen. Sie kniff die Augen zusammen und stellte ihr Glas ab.

«Was gibts denn da gross zu erfahren? Dass ich geschlagen wurde?»

Und dann begann sie doch zu erzählen. Von ihrem Ex-Mann, der sie immer wieder geschlagen hatte. «Nie schlimm genug, um in der Notaufnahme zu landen.» Von der Scham, die sie daran gehindert hatte, sofort zu gehen. «Das bin doch nicht ich, dachte ich.» Von der schier übermenschlichen Anstrengung, das Geschehene immer wieder wegzureden. «Er war doch jedes Mal am Boden zerstört.» Von der grenzenlosen Einsamkeit in diesem äusserlich perfekten Kartenhaus. In wenigen Sätzen gelang es ihr zu vermitteln, was für Aussenstehende so schwer nachvollziehbar ist. Und was sie selbst nicht verstand: «Ich war doch immer so selbstbewusst. Zu selbstbewusst, vielleicht …»

«Das ist die eigentliche Geschichte», sagte ich. «Schreib das.»

«Nein.» Sie schüttelte den Kopf, dass ihre kurzen, roten Locken flogen. «Auf keinen Fall. Ich bin kein Opfer!» Sie bestellte noch ein Glas Wein, und wir redeten über etwas anderes. Wir trafen uns noch ein paar Mal, doch irgendwann verloren wir uns aus den Augen.

Unschlüssig stand ich vor dem Standesamt, meine Urkunde in der Hand. Sollte ich warten, bis sie wieder herauskam? Sollte ich sie anrufen?

Ich dachte an das unverkennbare Glück, das sie ausgestrahlt hatten, alle drei.

Ich dachte an Erins unfertiges Buch. Auch wenn sie es nie veröffentlichen würde, es hatte ein Happy End gefunden.

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