Paula ruft mich an. Sie ist verstört: «Leo ist tot», sagt sie. «Leo, ich hab dir von ihm erzählt. Mein Nachbar.»
Jetzt erinnere ich mich. Und ich erinnere mich sofort und mit grossem Schrecken an die Nachricht, die ich vor ein paar Tagen im Radio gehört habe: «94-jähriger im Glen Canyon zu Tode geprügelt. Obdachloser der Tat verdächtigt.»
Ich hatte nur aufgehorcht, weil ich dort auch oft spazieren gehe. Ich wohne in der Nähe des oberen Eingangs des Stadtparks mit dem etwas pompösen Namen, Paula und Leo am unteren.
«Ich wollte es erst auch nicht glauben», sagt Paula. Weil man sich unbewusst weigert, solche Schreckensmeldungen auf sich zu beziehen. Und weil sie gar nicht wusste, wie alt Leo war. Er wirkte und benahm sich viel eher wie ein rüstiger Siebzigjähriger, den man oft auf dem Dach seines kleinen Bungalows sah, wo er eigenhändig frischen Teer auf den Platten verteilte. Jeden Tag ging er mit seinem Hund spazieren, meist sehr früh morgens.
Am unteren Eingang des Parks haben Obdachlose ihre Zelte aufgeschlagen. Das ist in San Francisco kein seltener Anblick. Besucher sind oft schockiert über das Ausmass des seit Jahrzehnten ungelösten Problems. Gründe dafür gibt es viele, doch eine der Hauptursachen ist die Abschaffung der psychiatrischen Zwangseinweisung durch Präsident Reagan. Seither leben viele psychisch Kranke auf der Strasse, unbehandelt, unbetreut.
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Paula öffnet ihren Garten für eine spontane Gedenkfeier, die sich über mehrere Nachmittage hinzieht. Immer mehr Nachbarn kommen vorbei, erzählen ihre Leo-Geschichten, trinken Paulas selbst gemachten Eistee, kommen miteinander ins Gespräch. Die meisten kannten sich bisher nur vom Sehen. Aber jeder kannte Leo. Und jeder hatte eine Geschichte zu erzählen, und jede Geschichte zeigt den alten Mann von einer anderen Seite.
«Wir haben uns immer vor der Buchhandlung getroffen, vor dem Regal mit den Gratisbüchern und den Belegexemplaren. Wir haben so oft nach demselben Titel gegriffen, dass wir irgendwann beschlossen, uns diese Fundstücke zu teilen. Wir hatten unseren eigenen kleinen Buchklub … Er mochte Stefan Zweig, wie ich.»
«Stefan Zweig, wirklich? Ich kannte ihn als Gemüsegärtner, er hat mir immer von seinen Tomaten abgegeben, bei ihm wuchsen sie immer.»
«Wir hatten die Leidenschaft fürs Laufen gemeinsam. Ich wollte ihm einen Schrittzähler schenken, aber er winkte nur ab. Dafür habe er den Hund.»
«Mehr als einmal hat er mich an der Bushaltestelle abgeholt und meinen Kinderwagen die ganze steile Strasse hochgeschoben. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
All diese Erzählfäden verknüpfen sich zu einem Netz, das die ganze Nachbarschaft umspannt.
In den Tagen nach seinem Tod bilden sich neue Verbindungen. Die Nachbarn lernen sich über Leo neu kennen, entdecken gemeinsame Interessen. Tomaten. Schrittzähler. Stefan Zweig.
Aber mehr noch: Leos sinnloser und absolut vermeidbarer Tod wirft Fragen auf. Er facht Diskussionen an. Wer weiss, vielleicht bewirkt er sogar etwas. «Er war die Seele des Quartiers», steht später in der Zeitung. Nicht der schlechteste Nachruf.