Ich hing gefühlte hundert Stunden in der Warteschleife meiner Bank, als sich plötzlich eine menschliche Stimme meldete. Nicht nur menschlich, sondern ausgesprochen einfühlsam.
«Das ist jetzt eine ganz schwierige Situation für dich, Milena», sagte die Stimme. «Aber mit diesem Anruf hast du den ersten Schritt getan.»
«O… kay?» Mir wurde etwas mulmig zumute. Stand es wirklich so schlecht um mich?
Meine Kreditkarte war abgelehnt worden. Das passiert manchmal. Als Ausländerin ohne sogenanntes «credit rating» muss ich diese nämlich immer brav im Voraus bezahlen. Was, wie der vernünftigere meiner Söhne mir einmal erklärt hat, für «jemanden wie mich» eigentlich ideal ist. Mit «jemandem wie mich» meint er jemanden, der eher sorglos mit Geld umgeht. Das ist so, aber gerade jetzt kommt mir diese Einstellung zugute. Ich mache mir Sorgen, klar, aber ich drehe nicht durch. Wofür ist Erspartes da, wenn nicht, um eine Krise durchzustehen? Allerdings neigt sich dieses auch langsam dem Ende zu. Doch so schlimm, wie meine Gesprächspartnerin es darstellt, kann es doch nicht sein?
«Meine erste Frage ist heikel, aber ich muss sie stellen, Milena. Denkst du darüber nach, dir das Leben zu nehmen?»
«Wie bitte?»
Schliesslich stellte sich heraus, dass ich aus Versehen mit der Beratungsstelle für Härtefälle verbunden worden war. Die Erleichterung über das Missverständnis war auf beiden Seiten ungefähr gleich gross. Ich versuchte, mir den Tagesablauf meiner Gesprächspartnerin vorzustellen, das Ausmass der Verzweiflung, mit dem sie konfrontiert ist. Wie sie versucht, diese Verzweiflung aufzufangen, während sie selbstverständlich die Interessen der Bank wahren muss und nicht die der Anrufer. Wie hält man das aus?, frage ich mich.
Ich denke an meine Nachbarin Vicky, die am ersten Tag des Lockdowns ihre Krebsbehandlung begann. Vier Monate später ist die Behandlung erfolgreich abgeschlossen, doch der Lockdown hält weiterhin an. Nur unentbehrliche Geschäfte sind geöffnet, und der Coiffeursalon, in dem Vicky arbeitet, gehört definitiv nicht dazu. Und da sie da nicht angestellt ist, sondern nur einen Platz mietet, kriegt sie auch keine Arbeitslosenunterstützung und keinen Lohnausfall. Als Härtefall gilt sie auch nicht, denn ihr Krebs habe mit Corona ja nichts zu tun, das laufe unter «Pech».
«Kommst du zurecht?», frage ich und denke gleichzeitig: blöde Frage.
Sie zuckt mit den Schultern. «Chris ist fest eingezogen. Er hilft mit der Miete.» Ihre Augen kräuseln sich über der Maske, die ihr Glück nicht verbergen kann. Ihre neue Liebe hat den widrigen Umständen standgehalten. Aber die Liebe allein ist nicht genug. Ihre Freundinnen bringen nach wie vor Mahlzeiten vorbei, manche Kundinnen zahlen für Haarschnitte, die sie nie bekommen haben.
«Ich bin ja zum Glück nicht allein», sagt Vicky tapfer.
Alleingelassen, aber nicht allein. Ich frage mich, wie viele akute Härtefälle durch Nachbarschaftshilfe und Freundschaftsdienste aufgefangen werden. Und wie viele durch die Beratungsstelle der Bank. Diese selbstverständliche Bereitschaft, sich in der Not gegenseitig beizustehen, ist, was ich an Amerika am meisten liebe. Aber dass sie so lebensnotwendig ist, das bricht mir das Herz.