Milena Moser
Der Müll der anderen

Wer hat sich nicht schon über herumliegenden Abfall aufgeregt, auf der Strasse, in der Natur, in öffentlichen Verkehrsmitteln? Es gibt ein ganz einfaches Mittel, damit umzugehen: Aufheben und wegwerfen.
Publiziert: 16.08.2020 um 13:19 Uhr
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Aktualisiert: 20.08.2020 um 10:23 Uhr
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Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Seit Jahren lese ich einmal die Woche auf meinem üblichen Spaziergang durchs Quartier herumliegenden Abfall auf. Eine ganz einfache, aber wirkungsvolle Übung, die ich von meiner Zenlehrerin gelernt habe. Früher haben wir sie in unseren gemeinsamen Kursen durchgeführt, immer mit erstaunlichen Ergebnissen. Das Wegräumen von Müll, den man nicht selbst verursacht hat, löst unweigerlich heftige Emotionen aus – welche dann wieder wunderbaren Stoff zum Schreiben geben.

Doch diese Wut auf die Grüsel, die Soiniggel, die diesen Dreck hinterlassen haben, das Gefühl der Überlegenheit, die Gewissheit, selbst über solches Verhalten erhaben zu sein, ist nicht der eigentliche Sinn der Übung. Das ist nur die erste und auch vollkommen normale Reaktion. Doch bei der sollte es nicht bleiben. Es geht nicht darum, ein Stückchen Umwelt zu verschönern und dafür die eigene Seele zu verdüstern. Nein, so wie ich es verstanden habe, geht es vielmehr darum, jeden Ort, an dem man sich aufhält, und sei es nur für eine Stunde, wie das eigene Zuhause zu behandeln. Mit Respekt. Mit Rücksicht. Mit Liebe.

Und wie alles andere muss man auch das üben, üben, üben.

Ich selbst brauchte zum Beispiel ungebührlich lange, bis ich das kapierte. Das Urteilen über andere war zwar nicht mein Problem, das liegt mir fern. Dafür weiss ich nicht genau, was es bedeutet, zu Hause zu sein. Das erste Mal, als wir diese Übung machten, kauerte ich die ganze Stunde lang im Hof vor meiner Schreibwerkstatt und klaubte selbstvergessen Zigarettenstummel zwischen den Pflastersteinen hervor. Ohne mich aus meinem eigenen Revier wegzubewegen. Das nächste Mal sammelte ich mit Begeisterung irgendwelchen Metallschrott zusammen und erklärte ihn zur Kunst. Entsorgt hatte ich nichts, dafür mehr Besitz angesammelt.

Der tiefere Sinn der Übung erschloss sich mir erst, als ich die Schweiz verliess und die nächsten Jahre zwischen meinem Lieblingshaus in Santa Fe und meinem Lieblingsmann in San Francisco hin und her pendelte. Da fühlte ich die Wirkung dieses wöchentlichen Rituals ganz deutlich: Wenn ich jeden Ort, an dem ich mich gerade aufhalte, wie mein Zuhause behandle, dann fühlt sich auch jeder Ort wie ein Zuhause an.

Es ist also weniger Nachbarschaftshilfe als Selbsthilfe, was ich hier veranstalte. Doch in den letzten sechs Monaten habe ich auch das vernachlässigt, wie so vieles andere auch. Erst hatte ich Angst, das Haus überhaupt zu verlassen, und als ich es dann wagte, begegnete ich jedem anderen Menschen erst einmal mit Misstrauen. Das erschreckt mich zutiefst. Das bin nicht ich. Und ich tue alles, um das nicht einreissen zu lassen. Es geht nicht, dass ich meinen Mitmenschen mit Misstrauen und Angst begegne. Und was könnte mich meinen Nachbarn näherbringen, als ihren Abfall aufzulesen?

Wenn ich also zu meinem Spaziergang durchs Quartier aufbreche, ziehe ich jetzt wieder öfter zur obligaten Maske ein Paar Handschuhe an und stecke ein paar Tüten ein. Wenn ich Abfall sammelnd unterwegs bin, sehe ich ganz andere Dinge. Obwohl ich zu Boden schaue, werde ich öfter angesprochen. Und so hilft mir diese Übung auch jetzt mehr, als dass sie meiner Strasse hilft. Ich fühle mich für meine Nachbarschaft verantwortlich. Ich fühle mich verbunden. Kurz, ich fühle mich zu Hause.

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