Wer jetzt die Stadt verlassen kann, und sei es nur für ein paar Tage, der tut es. «Ich wünschte, ich könnte irgendwo aufs Land rausfahren», sagte ich zu meiner Freundin Theresa. «In die Natur, verstehst du, weg von allem, mal was anderes sehen.» Die stetig anschwellende Wut, Angst und Verzweiflung meiner Nachbarn, meiner Freunde, selbst von Unbekannten, belastet mich zunehmend. Mir fällt es schon in friedlicheren Zeiten schwer, mich abzugrenzen.
Theresa nickte. «Mein Chef hat ein Ferienhaus, das leer steht», sagte sie dann ganz beiläufig, als sei es das Normalste der Welt, einen so dahingesprochenen Wunsch sofort zu erfüllen. «Irgendwo in den Foothills. Ich frag mal nach …»
Eine Woche später sitze ich mit einem Glas Wein an einem groben Holztisch auf einem Balkon. Umzingelt von riesigen Bäumen. Uralten Bäumen. Ponderosa-Kiefern und kalifornischen Schwarzeichen, und ich glaube Bergahorn und … irgendwo im Haus liegt ein Buch, in dem ich die Namen der Bäume nachschlagen könnte. Aber dann müsste ich ja hineingehen. Stattdessen lege ich mich auf den Rücken und schaue in die Baumkronen hinauf, die so hoch über mir schweben, unberührt von all den kleinen menschlichen Problemen und gleichzeitig irgendwie fürsorglich. Wie verwitterte, aber freundliche alte Tanten, die sich über eine Wiege beugen. Ich wusste nicht, dass es so viele Schattierungen von Grün gibt.
Es ist kein Paradies hier. Riesige Geländewagen knattern weiter unten die Strasse rauf und runter, im Supermarkt sind Waffen- und Survivor-Magazine ausgelegt, die Kassiererin trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Trump 2020». Bis heute ist mir kein einziger nicht weisser Mensch begegnet, und vermutlich bin ich auch die einzige Ausländerin in der Umgebung. Aber ich bin ja ohnehin meist im Haus, oder eher vor dem Haus, auf dem Balkon, mitten in diesem unendlichen Grün. Ich schreibe, ich lese, ich unterhalte mich mit den Bäumen. Ich bin allein hier. Theresa ist nach zwei Tagen wieder abgereist, sie musste zur Arbeit. Victor, der jetzt alle zwei Tage die Kardio-Reha-Klinik besucht, kommt erst am Wochenende wieder.
«Wie geht denn das?», fragt mich mein alter Nachbar Jack, mit dem ich lange nicht telefoniert habe. «Hast du eine Privatpflege für ihn organisiert?»
«Das weisst du ja noch gar nicht: Victor geht es sehr viel besser!»
Doch als Victor am nächsten Tag das Telefon nicht abnimmt, merke ich, dass meine Seele genauso der Realität hinterherhinkt wie mein alter Nachbar Jack. «Ich ruf dich gleich zurück», schreibt Victor. Und dann tut er es nicht. Er antwortet nicht einmal mehr. Und immer noch nicht. Sofort breitet sich wieder diese alte Angst in mir aus, von dem zentnerschweren Gewicht in der Mitte bis in die Fingerspitzen. In meinem Kopf spulen sich zehn Szenarien gleichzeitig ab, eines beängstigender als das andere, und doch real. Denn wir haben sie alle schon erlebt.
Dabei hat Victor nur vergessen, das Handy aufzuladen. Er versteht beim besten Willen nicht, warum ich so aufgelöst bin. «Du weisst doch, dass es mir besser geht!»
Ja, mein Kopf weiss das. Der Rest braucht offenbar etwas länger. Ich liege auf den warmen Holzbrettern und schaue in die Bäume hinauf. Die auch nicht über Nacht gewachsen sind.