Milena Moser
Auch eine Art, den Tag zu verbringen

Ich stehe am Strassenrand und blinzle in die blassgelbe, rauchverhangene Sonne. Und bringe diesen alten Song nicht aus meinem Kopf. «Downtown, things will be great when you’re … downtown!» Das hat auf mich noch nie zugetroffen und heute weniger denn je.
Publiziert: 13.09.2020 um 11:27 Uhr
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Aktualisiert: 25.09.2020 um 16:16 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Die Strassen sind ausgestorben, die Schaufenster der schicken Läden verschalt, die Warenhäuser geschlossen, selbst der kleine Park auf dem Dach der Tiefgarage liegt wie ausgestorben in der Nachmittagshitze, die an sich schon aussergewöhnlich ist. Selbst die Obdachlosen sind verschwunden. Ich weiss nicht, wann ich zuletzt hier war. Die Innenstadt ist nie der Ort, an dem sich die Einheimischen aufhalten.

Als wir vor mehr als zwanzig Jahren zuerst hierhergezogen waren, war meine Mutter noch fit genug, um zu reisen, und besuchte uns regelmässig. Eines unserer Rituale war ein Mittagessen unter dem pompösen Glasdach des Palace Hotels, wo sie mir dann jedes Mal von neuem erklärte, dass man auf ein Fischgericht unmöglich einen schokoladehaltigen Nachtisch folgen lassen konnte. Und so bestellten wir gezwungenermassen die gestürzte Apfeltorte, auf die man zwanzig Minuten warten musste, und dann war es schon wieder Zeit, die Kinder von der Schule abzuholen. Damals waren die Minuten und die Stunden meiner Tage lückenlos eingeteilt und eifersüchtig bewacht.

Jetzt fliesst ein Tag übergangslos in den anderen, so scheint es mir. So habe ich auch komplett verdrängt, dass heute einer dieser amerikanischen Feiertage ist, die ich mir nie merken kann, die aber immer auf einen Montag fallen. Und normalerweise mit einem Generalausverkauf verbunden sind. Menschenmassen, die im Morgengrauen vor den entsprechenden Geschäften anstehen und sich dann bei Türöffnung gnadenlos gegenseitig zu Boden rempeln.

Heute aber stehe ich mit wenigen Versprengten in einer ordentlichen Schlange vor dem Computerladen, exakt die zwei Meter Abstand einhaltend. Wir haben alle einen Termin abgemacht und einen Fragebogen ausgefüllt, wir lassen uns beim Eintreten die Temperatur messen. Und ja, wir tragen Masken.

Ich bin mit Abstand die Älteste hier. Nicht zum ersten Mal stelle ich fest, dass ich mich unter jüngeren Menschen wohler und sicherer fühle als unter Gleichaltrigen. Irgendwie scheinen sie nicht nur die technischen Neuerungen, die mich mehr und mehr überfordern, instinktiv zu begreifen, sondern sie haben auch die Fähigkeit, sich auf veränderte Umstände einzustellen. Was für uns eine Zumutung darstellt, sehen sie als Herausforderung. Möglicherweise vermisse ich auch einfach meine Kinder. Die allerdings auch schon deutlich älter sind als das selbsternannte Genie Alberto, das mich nun zu einem breiten Holztisch führt, wo wir uns in exaktem Sicherheitsabstand gegenübersitzen.

«Was ist das Problem?»

Ich reiche ihm mein Handy, dessen Bildschirm seit Wochen nur noch von der Plastikfolie zusammengehalten wird, die ich irgendwann zu seinem Schutz darauf gepappt habe. Er desinfiziert es sorgfältig, bevor er den Plastikschutz abschält. Wir sehen es beide gleichzeitig.

«Die gute Nachricht», sagt er freundlich, «die gute Nachricht ist, dass ihr Bildschirm absolut unversehrt ist, Ma’am.»

Nur der Schutzfilm war gesprungen. Das ist tatsächlich eine gute Nachricht, denn ein neuer Bildschirm ist teuer.

Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Er schiebt die Sprühflasche mit dem Desinfektionsmittel über den Tisch. Sekunden zerrinnen, die nicht mir gehören.

«Was haben Sie denn noch Schönes vor?», fragt Alberto im hilflosen Versuch, mich aufzumuntern und vor allem: aus dem Laden zu schicken.

Doch ich schüttle nur stumm den Kopf. Nichts. Das war das Abenteuer meines verlängerten Wochenendes.


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