Milena Moser über Thanksgiving
Danke!

Letzten Donnerstag wurde in Amerika Thanksgiving gefeiert. Es ist der wichtigste Feiertag hier, wichtiger als Weihnachten. Und hat mich, wie viele Einwanderer, anfangs erst einmal zutiefst verwirrt. Was wird denn hier eigentlich gefeiert?
Publiziert: 30.11.2020 um 07:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2021 um 16:12 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser

Vor etwas mehr als zwanzig Jahren sass ich zusammen mit anderen Eltern in der Turnhalle einer amerikanischen Grundschule und schaute die jährliche Thanksgiving-Vorführung. Singend und tanzend hüpften unsere Kinder über die Bühne, als Pioniere, Indianer, Truthähne und Maiskolben verkleidet. Zunehmend fassungslos schaute ich zu, wie die federgeschmückten amerikanischen Ureinwohner grosszügig ihre Mahlzeit mit den Pionieren teilten und sie so über den ersten harten Winter retteten. Die Pioniere bedankten sich mit bunten Wolldecken, und wie das endete, wissen wir alle. Das so öffentlich zu zelebrieren, schien mir schon sehr zynisch.

Am Nachmittag waren wir dann bei den Nachbarn zu einem Dinner eingeladen, das nachmittags um drei begann und sich weit in den Abend hineinzog, unterbrochen von Fernsehübertragungen und hitzigen politischen Diskussionen. Ich war nicht die Einzige, die den Ursprung des Festes beklagte und sich dann doch an den Speisen gütlich tat, die an damals erinnerten, am Süsskartoffelauflauf und an den Maisbrötchen und dem in dünne Scheiben geschnittenen Truthahnfleisch. Es war ein Fest, verstand ich, bei dem es in erster Linie ums Essen geht, ums Zusammensein, um die Gemütlichkeit. Ich war schon ganz versöhnt, als ich das schönste aller Rituale kennenlernte. Wir mussten der Reihe nach verkünden, wofür wir besonders dankbar waren. Darüber hatte ich noch gar nie nachgedacht. Ich erinnere mich an die leichte Panik, die mich erfüllte, als die Reihe an mir war. Mein Kopf war vollkommen leer, wie er früher oft an Prüfungen gewesen war. Doch plötzlich wusste ich etwas und noch etwas und dann eine ganze Fülle von Dingen, für die ich dankbar war. Diese Dankbarkeit füllte mich mehr als das Essen, wärmte mich nachhaltiger als die Gesellschaft.

Die Gewohnheit habe ich beibehalten, denn Dankbarkeit kann man trainieren wie einen Muskel. Irgendetwas finde ich immer. Auch am Abend des schwärzesten Tages. Auch in diesem Jahr. Wir wissen alle, was es uns abverlangt, gekostet, entrissen, zerstört hat. Und trotzdem, und erst recht: Danke.

Danke für Victors Herz, das zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren regelmässig schlägt und das jetzt schon mehrere Monate lang. Und danke für die erzwungene Ruhe, für den Hausarrest gleich nach Victors letzter Operation, für diese Umstände, die seine Heilung begünstigt haben. Danke für diese Erfahrung, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat mit demselben einen Menschen zusammen zu sein, eine Vorstellung, die mich früher in Angstschweiss ausbrechen liess. Stellt sich heraus: Es ist wunderbar.

Danke aber auch an meine Lieben, die ich jetzt nicht sehen, nicht umarmen kann, die mir so fürchterlich fehlen. Es ist ein Privileg, Menschen zu haben, die man vermissen kann. Dafür muss man sich nämlich ganz schön nahestehen. Auch wenn man weit weg ist. Danke für diese Klarheit.

Oh, und danke für den Luxus meines Gartenhäuschens und für unseren verwilderten Garten. Die meisten düsteren Gedankenwolken verziehen sich nämlich beim Jäten automatisch. Und für die frische Luft, die ich für selbstverständlich gehalten habe, bis wir sie plötzlich nicht mehr hatten. Jetzt sage ich Danke für jeden Atemzug. Danke für das Zurechtrücken meiner Prioritäten, für die Reduktion auf das Wesentliche, auf das Nötigste. Danke für die Erinnerung daran, was wirklich wichtig ist. Danke.

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