Milena Moser
Anstrengend kommt von streng

Zwei Dinge vergess ich immer, wenn ich lange nicht in der Schweiz war. Zwei Dinge überwältigen mich jedes Mal von neuem: Wie schön die Landschaft ist – und wie streng die Bewohner.
Publiziert: 17.05.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 17.05.2021 um 08:04 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Ich ging über die Zürcher Quaibrücke. Alle paar Schritte musste ich stehen bleiben und vor Begeisterung laut aufseufzen. Wie eine Touristin – was ich ja irgendwie auch bin.

«Wie schön es hier ist!», rief ich ein- oder zweimal aus, an niemand bestimmten gerichtet. Die Sonne schien, die Luft war klar, das Wasser glitzerte, die Schwäne neigten die Hälse, und die schneebedeckten Berge schienen zum Greifen nah. Als dann noch jemand übergrosse Seifenblasen in die unwirklich durchsichtige Luft pustete, war es ganz um mich geschehen.

Im Gegensatz zu einer echten Touristin verstehe ich aber die Landessprache in all ihren diversen Dialekten, und so ist mir auch schmerzlich bewusst, dass ich ständig etwas falsch mache. Nirgendwo kann man so vieles falsch machen wie in der Schweiz. Und man wird auch unerbittlich darauf hingewiesen. Natürlich nicht direkt. Nein, die Belehrungen werden hinter dem Rücken, aber durchaus in Hörweite ausgesprochen. Meist beginnen sie mit einem fassungslosen «Jetz lug emol die!». «Die» hat also innert wenigen Tagen folgende Fehltritte begangen: den Apfel im Supermarkt nicht abgewogen, im Bus die Stopptaste gedrückt, um dann doch nicht auszusteigen, vor dem Einpacken der Einkäufe ungebührlich lange gezögert, in der Fussgängerunterführung das Reissverschlussprinzip nicht exakt beachtet, Grüezi gesagt, nicht Grüezi gesagt.

Die Liste wird täglich länger. Und weil ich durchaus auch ein Sendungsbewusstsein habe, um nicht zu sagen eine erzieherische Ader, drehe ich mich in solchen Fällen dann um und entschuldige mich wortreich und überschwänglich: «Um Gottes willen, hab ich das wirklich getan? Das tut mir jetzt aber ganz furchtbar leid!» Und meist entspannt sich die selbsternannte Sittenpolizei dann auch gleich wieder. «Nicht so schlimm», heisst es grosszügig. «Kann ja mal passieren!»

Geht doch, denke ich. Mein Seufzen ist schon deutlich weniger begeistert und eher erschöpft. Es ist so anstrengend, ständig etwas falsch zu machen! In Amerika wird man zwar auch dauernd angequatscht, aber erstens immer direkt und zweitens meist freundlich. «Sie sehen aber gut aus heute! Tolle Stiefel!» Das wird dann gern als typisch amerikanische Oberflächlichkeit abgetan. Als ob das ständige Hinter-dem-Rücken-Rumnörgeln verbindlicher oder gar tiefschürfender wäre! Während ein unverhofftes Kompliment im Vorübergehen auch den düstersten Alltag aufhellen kann. Und das brauchen wir doch heute mehr denn je. Wenn Nettsein oberflächlich ist, dann bin ich gern oberflächlich.

Der Einzige, der mich direkt auf eine Verfehlung aufmerksam machte, war übrigens der junge Kontrolleur im Zug von Aarau nach Zürich. Es stellte sich heraus, dass ich wohl korrekt ein Retourbillett gelöst hatte, aber eins, das nur gerade drei Stunden gültig war. Und ich hatte mehr als fünf glorreiche Stunden in meinem alten Wohnort verbracht, war mit meinem Sohn und seiner Freundin die Aare entlang spaziert, im Gras gelegen, wir hatten gespritzten Weissen getrunken, Blumen gepflückt und mit jungen Hunden gespielt und schliesslich noch eine Pizza gegessen. Ich war bis zum Platzen mit Glück gefüllt. Daran konnte auch die Busse nichts ändern, die dann sogar von 100 auf 60 Franken reduziert wurde. «Wir sind ja keine Unmenschen», sagte der junge Mann. Nein, natürlich nicht. Aber streng seid ihr. Sehr streng.

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